Tod der Heilgen

Repeat: Jake

»Mist!« Ich fluche leise, als ich mich zum vierten Mal in die Wange schneide. Ich setze das Messer ab und betrachte missmutig die blutige Klinge. Man sollte nicht meinen, dass ein stumpfes Messer so viel Schaden anrichten kann.

Ich wische mir mit dem Handrücken über die Wange. Beim ersten und zweiten Schnitt dachte ich noch, dass es nicht allzu schlimm ist, solange der Bart weg ist, da Hilena mich heilen kann. Aber ich bezweifle, dass ich in Sachen Rasur große Fortschritte mache.

Ich will gerade ein Taschentuch hervorziehen, als ich ein Geräusch höre, das mich innehalten lässt. Ich sehe zu den Banditen, die sich jedoch nicht rühren. Sie sind damit beschäftigt, in den Wald zu schauen.

Ich halte den Atem an.

Die Heilige kommt zwischen den Bäumen hervor.

Ich habe nicht erwartet, dass sie als Erste zurückkommen würde. Oder ich habe es zumindest gehofft. Aber es erklärt, weshalb ausnahmslos alle Banditen zu ihr sehen.

Sie hat sich umgezogen und trägt die Kleider der Banditen, als hätte sie nie etwas anderes getragen. Tatsächlich könnte man bezweifeln, dass es dieselben Kleider sind, denn sie sehen nicht halb so schäbig an ihr aus wie an den Banditen. Mit der weiten Hose, die ihr erstaunlich gut zu passen scheint, dem dunkelroten Schal, den ich mich nicht erinnern kann, bei den Banditen gesehen zu haben, und der Schärpe, die sie fest um ihre Taille gebunden hat. Sie wirkt zierlicher als in dem weiten Gewand der Heiligen und sie kommt mit selbstbewussten Schritten auf mich zu, als würde sie kein Unwohlsein darüber empfinden, Hosen zu tragen.

»Wenn Ihr fertig seid, mit, was immer Ihr da tut, könnte ich das Messer haben?«, fragt sie in einem ebenso selbstbewussten Tonfall, der mich aus meinen Gedanken reißt.

Ich sehe auf das Messer in meiner Hand hinab, dessen blutige Klinge mich wieder daran erinnert, was ich gerade getan habe. Und wie ich aussehe. Ich wische mir über das Kinn, in einem kläglichen Versuch, den Schaden in meinem Gesicht zu beheben. »Ich habe versucht, mich zu rasieren«, sage ich, auch wenn ich denke, dass sie das trotz ihrer Worte erraten hat. Warum musste es ausgerechnet die Heilige sein, die mich so sieht? Und wieso benimmt sie sich, als wäre sie nicht überrascht?

»Aha«, sagt sie, als würde sie sich nicht dafür interessieren.

Ich verstehe, dass sie mich nicht leiden kann, aber so zu tun, als wäre es völlig normal, sich beim Rasieren das Gesicht zu zerschneiden, lässt mich mich nur noch mehr wie ein Trottel fühlen. »Wozu braucht Ihr es?«, frage ich, mehr um etwas zu sagen, als aus Neugier.

Sie nimmt das Messer entgegen und kaum hat sie es berührt, verschwindet das Blut von der Klinge. »Ich möchte auch ein wenig an mir herumsäbeln.«

»Ich fürchte, für eine Rasur fehlt Euch der Bart, Eure Heiligkeit«, antworte ich, denn mit frechen Worten kann ich sehr viel besser umgehen als mit Schweigen.

Sie hebt den Blick, um mich anzusehen und es liegt eine Schärfe in ihren himmelblauen Augen, als versuche sie, durch meine Augen direkt in meinen Kopf zu schauen. Es ist ein Blick, der das Gegenteil des geistlosen Ausdrucks zu sein scheint, der so oft ihr Gesicht ziert.

»Ihr scheint das Messer nicht dafür verwendet zu haben, um Euren Bart zu stutzen.« Ein spöttischer Unterton schwingt in ihrer Stimme mit und ihre Lippen kräuseln sich.

Ich wusste, dass ihr unschuldiges Getue nur eine Fassade ist, aber sie gibt sich nicht einmal mehr Mühe, daran festzuhalten.

Ich wische mir erneut übers Kinn, bevor das Blut auf meine Kleidung tropfen kann. »Macht Euch ruhig über mich lustig«, sage ich und denke, wie ironisch es ist, dass sie das gerade bei mir versucht. »Ich bin nicht so leicht aus der Fassung zu bringen wie Mikail.« Ich beobachte genau, wie sie auf meine Worte reagiert. Denn ich bin mir sicher, dass es genau das ist, was Mikail ständig in Verlegenheit bringt.

Die Heilige neigt den Kopf leicht zur Seite, während sie meinen Blick unerschrocken erwidert. Es liegt weder Schuldbewusstsein noch Unsicherheit darin und ich verspüre Verwirrung darüber, dass sie nicht die Augen niederschlägt, so wie Frauen es für gewöhnlich tun.

Und dann schnippt sie mit den Fingern.

Ich sehe zu ihrer Hand, die sie erhoben hat. Es scheint eine Angewohnheit zu sein, wann immer sie einen Zauber wirkt. Ich habe keine Ahnung, welchen Zauber sie gerade gewirkt hat, aber ich scheine sie verärgert zu haben. Ich schlucke, bevor ich sie fragend ansehe.

»Ha«, macht sie und Belustigung zeichnet sich auf ihrem Gesicht ab. »Seid Ihr sicher?«

Sie hat mir also nur einen Streich gespielt, denke ich verdrossen, ehe ich eine sanfte Kühle über mein Gesicht streichen spüre. Ich hebe unwillkürlich die Hand und berühre es. Unter meinen Fingern spüre ich glatte, unverletzte Haut, ohne Bartstoppeln.

Ich sehe Ihre Heiligkeit ungläubig an. »Wieso …?«

»Wieso seid Ihr so überrascht?« Sie runzelt die Stirn, während sie mich betrachtet, als würde ich mich unsinnig benehmen. »Wolltet Ihr den Leuten im Dorf Angst einjagen mit Eurem zerschnittenen Gesicht?«

»Ich dachte, dass Ihr es Hilena überlassen würdet, mich zu heilen«, murmle ich, die Hand immer noch an meiner Wange. Hilena hat gesagt, sie könnte mich rasieren, aber nur auf Kosten meines gesamten Haares. Nach dem Zauber Ihrer Heiligkeit habe ich definitiv noch das Haar auf meinem Kopf, aber was ist mit meinem Bart? Ich trage momentan zwar keinen, aber ich weiß nicht, ob ich glücklich darüber wäre, der Möglichkeit beraubt worden zu sein.

Ich sehe Ihre Heiligkeit an. »Ihr habt mich sogar rasiert«, sage ich, in der Hoffnung, dass sie mir von sich aus verrät, ob es eine permanente Rasur ist.

»Weil Ihr es offensichtlich nicht könnt. Und nichts sagt so sehr ‚Ich bin der verzogene Sohn aus einem Adelshaus‘ wie die Unfähigkeit, grundlegende Dinge selbstständig zu bewältigen.«

Ich sehe sie überrascht an. Sie hatte denselben Gedanken wie ich. Was nicht abwegig ist, da wir im selben Boot sitzen. Und mit einem Mal kommen mir meine Gedanken zuvor albern vor. Die Heilige hat etwas gegen meine Familie, aber obwohl sie mich das bei jeder Gelegenheit wissen lässt, hat sie mir nie Unrecht getan und mich genauso beschützt wie die anderen. »Ob Ihr es glaubt oder nicht, aber das war auch mein Gedanke«, sage ich mit einem Gefühl von Erleichterung. »Ich wusste nicht, dass es so viel schwieriger ist, sich ohne Spiegel und mit einem gewöhnlichen Messer zu rasieren. Aber ich tue es normalerweise selbst, nur damit Ihr es wisst.«

Sie sieht mich an, als wäre sie plötzlich gelangweilt und tatsächlich wendet sie sich ab.

»Eure Heiligkeit!«, rufe ich, noch bevor ich entschieden habe, was ich ihr sagen will.

Sie hält inne und sieht über ihre Schulter, wie um mir zu sagen, dass sie sich nicht umdrehen würde, wenn es nicht um etwas Wichtiges geht.

Ich schlucke. »Da ist etwas, das Ihr wissen solltet.« Es ist etwas, das ich ihr schon lange hätte sagen sollen, aber nicht einmal jetzt kommt es mir leicht über die Lippen.

»Ja?« Die Heilige sieht mich ungeduldig an.

Ich befeuchte meine Lippen, während ich mich umsehe. Dabei fällt mein Blick auf die Banditen, deren Anwesenheit ich ganz vergessen habe. Sie sind sehr ruhig, dafür dass sie uns vor kurzem umbringen wollten.

»Sie sprechen unsere Sprache nicht und von den anderen ist niemand in der Nähe«, sagt die Heilige und erinnert mich daran, wie unbeeindruckt sie von den Banditen ist. Vielleicht ist es nicht verwunderlich, nachdem sie vorhergesehen hat, dass wir überfallen werden würden und bedenkt man, dass sogar ich alle Banditen spüren kann, stellen sie für Ihre Heiligkeit offensichtlich keine Bedrohung dar. Und trotzdem …

Ich richte meinen Blick auf sie, das Bild von ihr, wie sie gelassen vor dem Anführer der Banditen hockt, eine Klinge auf ihre Kehle gerichtet, deutlich vor Augen. Wie oft muss ein Attentat auf sie verübt worden sein, dass eine Messerklinge sie nicht einmal mehr mit der Wimper zucken lässt. »Es geht um die Veranstaltung der Prinzessin … Genauer, um das Attentat auf Euch«, beginne ich, während ich mich frage, wie viel sie tatsächlich darüber weiß. Denn nach heute bin ich mir absolut sicher, dass es keinen Grund für Mikail gab, sich zwischen die Heilige und den Attentäter zu stellen. Dass sie verängstigt gewesen sein soll, muss er sich eingebildet haben. Oder sie hat es vorgetäuscht.

»Was ist damit?« Sie hat sich zu mir umgedreht, aber obwohl sie mich abwartend ansieht, wirkt sie nicht beunruhigt oder nervös.

Wie ich es mir gedacht habe, muss hinter dem Attentat mehr stecken, als Mikail, ich oder sonst jemand in unserer Gruppe weiß. Und wenn das der Fall ist, erzähle ich Ihrer Heiligkeit möglicherweise etwas, das ihr schon bekannt ist. Aber wenn es so ist, ist es umso wichtiger, dass ich es ihr sage.

»Ich wollte nur, dass Ihr wisst … Ich weiß nicht, ob es Euch aufgefallen ist, aber der Attentäter ist ….« Ich stottere trotz allem, schließlich bin ich dabei zuzugeben, dass es eine Verbindung zwischen dem Attentäter und mir gibt. Und der Gedanke, dass ich vielleicht doch nichts sagen und alles so lassen sollte, wie es ist, geistert durch meinen Kopf. »Als Ihre Hoheit die Kontrolle über ihre Magie verloren hat, war ich nicht in der Nähe der Bühne. Aber als ich den Rauch gesehen habe, bin ich zurückgekommen«, beginne ich von neuem, diesmal von Anfang an.

»Und?«

»Ich wurde von einem Mann angesprochen. Er sagte, Hilena sei noch auf der Bühne und dass er mich zu ihr bringen würde.« Ich bemühe mich, meine Stimme ruhig zu halten und sachlich zu sprechen. »Aber ich schwöre Euch, ich wusste nicht, wer er ist.«

Überraschung tritt auf ihr Gesicht. »Ihr meint, Ihr wusstet nicht, dass er auf die Bühne wollte, um mich zu töten.«

Ich nicke, erleichtert, dass sie ruhig antwortet. »Ich denke, jemand wollte die Tatsache, dass ich ein Alistair bin, ausnutzen, um von sich abzulenken.«

Die Heilige sieht mich nach wie vor überrascht an. Dann bricht sie in Gelächter aus.

Ich starre sie an. Ich wusste nicht, wie sie auf meine Eröffnung reagieren würde, aber ich habe sicher nicht erwartet, ausgelacht zu werden. Und es ist nicht das Gelächter einer Person, die etwas wirklich lustig findet. Es ist ein Lachen, bei dem es mir kalt den Rücken hinunterläuft und sich mir die Nackenhaare aufstellen.

Ich kann nicht einmal sagen, was mich so beunruhigt, aber ich weiche unwillkürlich vor ihr zurück. »Eure Heiligkeit?«

Das Lachen verstummt. »Wieso sagt Ihr mir das gerade jetzt?«

Ich schlucke. Ihre Stimme klingt weder belustigt noch wütend. Es fehlt ihr an jeglicher Emotion, was es mir nicht leichter macht, die Reaktion Ihrer Heiligkeit einzuordnen. »Ich wollte Euch die Wahrheit sagen. Und bis jetzt hatte ich nie wirklich eine Gelegenheit …«

»Und Ihr hattet Angst, dass ich Euch nicht glauben würde«, sagt sie leichthin, während sie einen Schritt auf mich zu macht. Und diese beiläufige Antwort macht eine Sache klar: Ich habe ihr nichts Neues erzählt.

»Ja, aber das war wohl unnötig«, sage ich und frage mich, ob sie deswegen gelacht hat. Weil ich dachte, ich würde ihr etwas Hilfreiches erzählen.

»Oh?« Ihre Augen funkeln spöttisch.

»Ihr wusstet schon, dass ich nichts damit zu tun hatte.«

Sie antwortet nicht. Stattdessen macht sie noch einen Schritt vor, wodurch sie nun direkt vor mir steht. »Verratet mir etwas«, sagt sie mit einer Stimme, die sowohl einladend als auch frostig klingt, und ich habe das Gefühl, meine Füße sind am Boden festgewachsen.

»Wieso habt Ihr Angst vor mir?«

»Wovon sprecht …«

Die Heilige hebt eine Braue, wie um mich aufzufordern, ihr nichts vorzumachen.

Ein Schnauben entkommt mir. Jeder mit Grips im Kopf hätte ein gesundes Maß an Angst vor Ihrer Heiligkeit. »Ich bin nicht stärker als ein Gargoyle. Ihr könntet mich genauso leicht zerquetschen.«

»Ihr hattet schon Angst vor mir, als wir uns das erste Mal gesehen haben.«

Als wir uns das erste Mal gesehen haben? Ich denke zurück an die verschleierte Gestalt, von der ich nicht einmal die Hände sehen konnte. An ihre Präsenz, die ich nicht spüren konnte, und die doch so überwältigend gewesen ist. Und doch sieht die Heilige mich jetzt an, als wäre sie verwirrt darüber. »Ich bin ein Alistair. Wen würde es nicht beunruhigen, von der Heiligen gehasst zu werden.«

»Euren Vater«, antwortet sie prompt und ich kann nicht anders, als aufzulachen. Denn mein Vater ist die erste Person, die mir einfallen würde, wenn es um Menschen geht, die Angst vor der Heiligen haben. »Mein Vater ist Euretwegen noch sehr viel beunruhigter als ich es bin.«

»Tatsächlich?« Die Heilige löst den Blick von mir, während sie über meine Worte nachdenkt und ich hätte beinah erleichtert aufgeatmet. Ich hätte nie gedacht, dass es sich so bedrohlich anfühlen kann, einer schönen Frau so nahe zu sein.

»Heißt das, er hat Euch Gruselgeschichten über mich erzählt?« Die blauen Augen Ihrer Heiligkeit richten sich wieder auf mich. Ihre Brauen heben sich leicht und unterstreichen ihren provokanten Blick, während sie das Kinn ein wenig reckt, als wolle sie auf das amüsierte Grinsen aufmerksam machen, das ihre Lippen umspielt. 

Ich schlucke. »Die eine oder andere«, murmle ich, damit beschäftigt, mich davon abzuhalten, ihre Lippen anzustarren. »Ich weiß nicht, wie viel von dem, was er gesagt hat, wahr ist, aber er hat dafür gesorgt, dass ich Euch gegenüber misstrauisch bin.«

Das Grinsen verschwindet und auch das provokante Funkeln in ihren Augen verblasst. So als würde sie sich plötzlich bemühen, eine neutrale Miene aufzusetzen. »Ihr wollt also sagen, dass Ihr nur ein braver Sohn Eures Vaters seid?«, fragt sie, wobei sie nicht weniger selbstbewusst klingt als zuvor.

Ich schüttle den Kopf, auch um bei der Sache zu bleiben. Ich war nie ein braver Sohn meines Vaters und wenn es etwas gibt, das ich von seinen ständigen Warnungen vor der Heiligen gelernt habe, dann wie besorgt er ihretwegen ist. »Ich will sagen, dass ein mächtiger Mann wie mein Vater sich die Mühe gemacht hat, mich vor einer kränklichen Frau zu warnen, die jünger als sein jüngster Sohn ist und abgesehen von einer symbolischen Position keine politische Macht besitzt.«

Sie runzelt die Stirn, als wäre sie überrascht.

Ich sehe ihr in die Augen, während ich mich frage, was sie überrascht. Dass mein Vater sich so viele Gedanken ihretwegen macht oder dass ich sie als machtlos bezeichne? Und wenn es letzteres ist, liegt es daran, dass es nicht die Wahrheit ist? »Um Eure Frage zu beantworten, Eure Heiligkeit: Es ist nicht, das, was mein Vater mir über Euch erzählt hat, das mir Sorgen macht. Sondern das, was er ausgelassen hat.«

Die Stirnrunzel wird von einem nachdenklichen Ausdruck ersetzt, der etwas unzufrieden auf mich wirkt. Aber ich bemühe mich, nicht zu gründlich festzustellen, wie perfekt selbst dieser Ausdruck auf ihrem schönen Gesicht aussieht. 

»Ihr habt Angst vor mir, aber Ihr erzählt mir etwas, dass ich möglicherweise missverstehen könnte. Wie mutig«, sagt sie, aber die Drohung darin fühlt sich halbherzig an.

»Ich habe keine Angst vor Euch.«

Sie macht tatsächlich ein fragendes Gesicht.

Ich schnaube belustigt. »Ihr habt mir auf dieser Reise mehr als einmal das Leben gerettet, trotz Eurer Abneigung gegen mich. Ich weiß zu schätzen, dass Ihr mich nicht mit meinem Vater gleichsetzt. Alles, was ich will, ist, mich für Euren guten Willen zu revanchieren.«

Sie blinzelt und der widerwillige Ausdruck auf ihrem Gesicht, den ich schon als süß bezeichnen würde, verschwindet. »Meinen guten Willen?«, wiederholt sie und mit einem Mal tritt wieder diese Schärfe in ihre Augen.

Ich versteife mich unwillkürlich, während in mir das Gefühl aufsteigt, etwas Falsches gesagt zu haben.

»Wer sagt, dass ich das aus gutem Willen getan habe?« Hohn schwingt in ihrer Stimme mit und ihr Blick ist herablassend, als wisse sie etwas, das ich nicht weiß. »Mitleid trifft es eher.«

Mitleid, wiederhole ich in meinem Kopf. Wieso sollte sie ausgerechnet mit mir Mitleid haben? »Wie meint Ihr das?«

Erneut verzieht ein Grinsen ihre Lippen und ein unheilvolles Gefühl steigt in mir auf. Sie weiß etwas, denke ich. Sie weiß definitiv etwas! Ich öffne den Mund, um sie danach zu fragen, aber eine andere Stimme kommt mir zuvor.

»Stimmt etwas nicht?«

Etwas irritiert nehme ich den Blick von Ihrer Heiligkeit und sehe zu Mikail, der zwischen den Bäumen hervorkommt. Er hat sich umgezogen, aber sein Blick und sein Tonfall sagen mir, dass etwas nicht stimmt. Denn er sieht mich an, als würde ich etwas Verwerfliches tun. Es ist ein Blick, den er, der stets perfekte Mikail, beherrscht wie kein anderer und den ich zu meinem Leidwesen sehr gut kenne.

Wieso zur Hölle musste er uns gerade jetzt unterbrechen?!

»Was meint Ihr?«, fragt die Heilige und erst als ich zu ihr sehe und beobachte, wie sie einen Schritt zurücktritt, verstehe ich, was Mikails Problem ist. Er bekommt immer diesen missbilligenden Blick, wenn er der Meinung ist, dass ich zu freundlich zu einer Dame bin, die nicht Hilena ist. Wobei ich mir sicher bin, dass das Estellas Einfluss ist, die ihrerseits von Hilena beeinflusst wird.

»Ich brauchte nur das Messer«, sagt die Heilige in unbekümmertem Tonfall, der Mikail deutlich machen sollte, dass ich sie nicht belästigt habe.

»Wozu?«, fragt er kein bisschen besänftigt und ich denke, dass es hier um mehr geht, als um mein Verhalten.

»Mein Haarschmuck hat sich zu sehr in meinen Haaren verheddert, sodass ich ihn ohne Messer nicht herausbekomme.«

Ich blinzle verdutzt und sehe die Heilige an. Ich dachte, sie wollte sich nur über mich lustig machen, als sie sagte, sie wolle an sich ‚herumsäbeln‘.

»Wollt Ihr sagen, Ihr habt vor, Euer Haar abzuschneiden?«, fragt Mikail und auch er klingt so schockiert, dass er zu vergessen scheint, mich zu verurteilen.

»Ja. Alles andere würde eine Ewigkeit dauern«, sagt die Heilige, als würde es sich um eine Nebensächlichkeit handeln.

Würde sie sich wirklich ohne Bedenken die Haare abschneiden? Ich betrachte ihr langes braunes Haar und kann nicht leugnen, dass ich das sehr schade finden würde.

»Ich helfe Euch«, sagt Mikail und ich richte meinen Blick auf ihn. 

»Wobei?«, fragt die Heilige und ich nicke. Wobei?

Mikail sieht mich an, als hätte er sie nicht gehört. »Danke, dass du ein Auge auf die Banditen hattest. Ich übernehme jetzt.« Er macht eine Kopfbewegung in Richtung Wald und an diesem Punkt frage ich mich, ob er wirklich so naiv ist. Es ist fast, als würde er mich wegschicken, um mit Ihrer Heiligkeit allein zu sein. »Bist du sicher?«, frage ich und hoffe, dass er die Andeutung versteht.

Aber Mikails ahnungsloser Gesichtsausdruck sagt mir, dass er gar nichts versteht. »Gibt es einen Grund, der dagegen spricht? Ich dachte, du willst dich auch umziehen«, sagt er und ich halte mich mit Mühe davon ab, laut ‚Ja‘ zu rufen. Es gibt sogar mehrerer Gründe, die dagegen sprechen!

Ich seufze. Es ist keine Angelegenheit, die ich vor Ihrer Heiligkeit ansprechen sollte. »Wie du meinst«, sage ich also, klaube meinen Stapel Banditenkleider vom Boden auf und wende mich ab, um in den Wald zu gehen.

Vielleicht irre ich mich ja und Mikails Absichten sind tatsächlich rein. Immerhin ist es Mikail, der in seinem ganzen Leben wohl noch nie einen unanständigen Gedanken hatte. Und es geht um die Heilige. Mikail würde schon aus Prinzip die Finger von ihr lassen und die einzige Person, die ein Problem mit seiner Schwärmerei hat, ist Estella. Und Eden. Und Dalton möglicherweise, wobei ich nicht glaube, dass er etwas davon mitbekommen hat.

Ich bleibe stehen, als mir bewusst wird, dass ich auf Edens und Daltons Präsenzen zugehe, zwei Männer, die die Heilige in einem außergewöhnlichen Maß anhimmeln.

Kurzentschlossen ändere ich meine Richtung. Ich brauche eine Pause.



 

Als ich zurückkomme, sitzt die Heilige auf dem Boden und Mikail kniet hinter ihr, darin vertieft, die Goldfäden aus ihren Haaren zu entwirren. Estella sitzt nicht unweit von ihnen und zerbricht reichlich grob einige Zweige, während Hilena verzweifelt auf sie einredet, ohne sie dabei von Mikail und der Heiligen ablenken zu können.

Eden scheint damit beschäftigt zu sein, unsere neugewonnenen Essensvorräte zu plündern, wobei auch er ständig grimmige Blicke in Mikails Richtung wirft.

Dalton und Annie sitzen still am werdenden Lagerfeuer, offenbar eingeschüchtert von der Spannung der Situation. Sogar die Banditen scheinen sich unwohl zu fühlen, nur die Urheber des Problems bekommen nichts davon mit. Die Heilige sieht so aus, als wäre sie kurz davor wegzudösen und Mikail ist mit höchster Aufmerksamkeit auf seine Arbeit konzentriert.

Ich hätte mir mehr Zeit lassen sollen, denke ich und überlege, ob es zu spät ist, um wieder zurück in den Wald zu gehen. Das ist es. Denn Hilena hat mich entdeckt und hebt überschwänglich den Arm, um mir zuzuwinken. »Jake!« Sie springt auf und kommt auf mich zu, offensichtlich erleichtert darüber, einen Grund zu haben, das Thema zu wechseln. Und sie macht große Schritte, um zu vermeiden, auf den zu langen Saum ihrer Hose zu treten.

In einer anderen Situation hätte ich darüber gekichert.

»Du siehst gut aus! Haben Ihre Heiligkeit dir auch mit deinem Bart geholfen? Das war wirklich großzügig von ihr!« Sie spricht mit lauter Stimme und ich nehme an, sie will hervorheben, dass die Heilige Mikail keine Sonderbehandlung gewährt.

»Ja«, antworte ich einfallslos.

Hilena erreicht mich und packt meine Hände. »Du musst mit Mikail reden!«, zischt sie, diesmal mit leiser Stimme, sodass nur ich sie hören kann.

Ich presse die Lippen aufeinander. Ich wusste, dass sie das sagen würde, aber ich will das nicht tun. Schon als Mikail angefangen hat, Ihre Heiligkeit zu tragen, wollte Hilena, dass ich mich mit ihm abwechsle, um es leichter für Estella zu machen. Und obwohl ich verstehe, was ihr durch den Kopf gegangen ist, gefiel mir der Vorschlag schon damals nicht. Selbst abgesehen davon, dass sie von mir wollte, dass ich eine andere Frau trage, obwohl sie normalerweise schon beleidigt ist, wenn ich zu lange mit einer rede. Nur der Gedanke daran, Ihrer Heiligkeit vorzuschlagen, sich von mir tragen zu lassen, lässt mir kalt werden.

»Er hilft ihr nur mit ihren Haaren. Sie wollte sie abschneiden«, sage ich so arglos wie möglich.

Sie funkelt mich verärgert an. »Du weißt genau, was ich meine!«

Natürlich weiß ich, was sie meint. Aber das Problem ist nicht, dass er Ihrer Heiligkeit mit ihren Haaren hilft. Das eigentliche Problem ist etwas viel Grundlegenderes, das sich nicht beheben lassen würde, selbst wenn ich mit ihm rede.

Ich seufze und beschließe, das Thema zu wechseln. Mein Blick huscht an ihr hinab. »Die neuen Kleider stehen dir«, sage ich und werfe dem orange-braunen Schal einen Blick zu, den sie sich schräg um die Mitte gebunden und über der Schulter zu einer Schleife geknotet hat. Es ist eine kreative Art, sottische Kleider zu tragen, aber mir fällt außerdem auf, dass Hilenas Kleider nicht so heruntergekommen aussehen wie meine.

»Versuch nicht, das Thema zu wechseln«, sagt sie, aber ein geschmeichelter Ausdruck tritt auf ihr Gesicht. »Außerdem ist das Ihrer Heiligkeit zu verdanken. Sie hat unsere Kleider verzaubert, damit sie besser aussehen.«

»Ah«, mache ich, als mir klar wird, dass es nicht an ihrer Schönheit liegt, dass die Heilige selbst in den Banditenkleidern elegant aussieht. Ich werfe ihr einen Blick zu. Jedenfalls nicht nur.

Hilena zieht an meinen Händen, um mich dazu zu bewegen, ihr zurück zu Estella zu gehen. Und ich habe leider keine andere Wahl, als ihr zu folgen.

»Bitte lasst mich das machen, Euer Hoheit«, sage ich in gelassenem Tonfall und nehme Estella die Zweige aus der Hand, die sie gerade entzweibrechen will.

»Ich kann das durchaus allein, Jake!«, antwortet Estella gereizt, obwohl bereits ein blutiger Kratzer ihre Handfläche ziert.

»Ich weiß, aber wenn Ihr alles allein macht, kann ich später nicht behaupten, dass ich geholfen habe«, sage ich, während ich die Zweige auf die anderen lege, die Estella bereits vor sich auf dem Boden gestapelt hat. »Und anzünden kann ich sie nicht.«

Estella schnaubt. »Als ob das viel Arbeit wäre«, sagt sie, aber sie greift nicht nach weiteren Zweigen und lässt ihre Hände von Hilena heilen.

»Für Euch vielleicht nicht. Aber wir müssten Steine aneinander schlagen oder so etwas.« Mein Blick huscht zu Annie, die mit einem abwesenden Blick auf den kleinen Haufen Zweige starrt. »Und wie Ihr wisst, sind Feuermagier so beeindruckend, dass kleine Mädchen sie heiraten wollen, selbst wenn sie nur der Fantasie entsprungen sind.«

Annie blinzelt. Ihr Blick richtet sich auf mich und als sie bemerkt, dass ich sie angrinse, breitet sich Empörung auf ihrem Gesicht aus.

Da Feuermagie sich oft in der königlichen Familie vererbt und dank ihrer destruktiven Eigenschaften, ist es gesellschaftlich akzeptabel, sie als Mann zu besitzen. Nicht zuletzt, nachdem vor einigen Jahren ein Buch für Aufsehen gesorgt hat, indem der Held kein Aura-Träger, sondern ein Feuermagier war. Annie hat das Buch damals auch gelesen und sich Hals über Kopf in den Magier verliebt.

»Das war - ! Ich war noch ein Kind damals!«, ruft sie und ihre Wangen nehmen ein verräterisches Rot an.

Ich setze ein verwirrtes Gesicht auf. »Du warst damals noch ein Kind? Du bist auch heute noch ein Kind oder habe ich was verpasst?«

»Ja! Ich bin ab diesem Jahr offiziell erwachsen!« Sie deutet stolz mit dem Daumen auf sich.

»Seit wann ist man mit zwölf erwachsen?«, frage ich dümmlich.

»Ich bin nicht zwölf!«

»Nicht? Aber du siehst aus wie zwölf!«

»Das findest du nur, weil du alt bist!«, faucht sie und deutet mit dem Finger auf mich.

»Weil ich dieses Jahr doppelt so alt werde wie du?«

»Kannst du nicht rechnen?«

»Wieso? 24 ist das doppelte von zwölf – autsch!«

Annie beginnt meinen Arm zu schlagen. »Ich habe gesagt, ich bin nicht zwölf!«

»Aua, wie kannst du einen alten Mann schlagen?«, jammere ich, sehe dann aber zu Estella, die Annie und mich beobachtet. Dabei scheint sie eine neutrale Miene behalten zu wollen, aber ich kann sehen, dass sie ein Schmunzeln zurückhält.

»Seht Euch diese Leidenschaft an, Euer Hoheit«, sage ich, als würde ich die Worte kaum über die Lippen bringen.

Estella kichert. »Wenn du so weiter machst, wird sie dich irgendwann hassen.«

»Ich hasse ihn jetzt schon!«, ruft Annie dazwischen. Sie hat aufgehört, mich zu schlagen, hält aber immer noch meinen Arm fest. »Es ist kein Wunder, dass er keine Verlobte findet! Wer will den schon heiraten wollen!«

Ich ziehe einen Flunsch. »Das ist gemein. Und nicht wahr.« Ich hebe einen Finger. »Nur damit du es weißt, ich bin sehr beliebt bei Frauen.«

Annie sieht mich an und ein selbstgefälliges Grinsen breitet sich auf ihrem Gesicht aus. »Das ist genau dein Problem. Für eine Verlobung solltest du nur bei einer Frau beliebt sein.« Sie lässt meinen Arm los und verschränkt die Arme vor der Brust. »Jemand, der sich alle Türen offen hält, verbringt sein Leben im Flur. Weißt du das nicht?«

»Wer hält sich Türen offen? Ich halte mir gar nichts offen.« Ich sehe zu Hilena, die meinem Blick jedoch geflissentlich ausweicht. 

»Wo sie recht hat …«, murmelt sie.

Ich sehe sie empört an.

»Siehst du?«, sagt Estella und sogar sie klingt süffisant. »Du solltest Annie nicht unterschätzen.«

Ich seufze und beginne wieder, damit Zweige zu zerbrechen. »Alle hacken auf mir herum, obwohl ich der Einzige bin, der hier arbeitet.« Ich lege die Zweige auf den Haufen und kaum habe ich meine Hände zurückgezogen, murmelt Estella: »Oh, brennendes Feuer!« und der Haufen beginnt zu brennen.

Ich sehe sie an. »Versucht Ihr, mich schlecht dastehen zu lassen, Euer Hoheit?«

»Nun, es ist nicht so, dass du das gekonnt hättest«, antwortet sie mit einem stolzen Lächeln, während sie in die Flammen schaut. Sie wirkt entspannter.

Bei Mikails Benehmen ist es nur natürlich, dass sie sich mit der Heiligen vergleicht. Und verglichen mit Ihrer Heiligkeit sind wir alle ziemlich nutzlos. Ohne sie wären wir mehrere Male gestorben und dann hat sie auch noch nützliche Fähigkeiten, wie dass sie offenbar Kleidung so verzaubern kann, dass sie besser aussieht.

Nachdem Mikail endlich mit ihren Haaren fertig ist, verzaubert sie auch seine Kleidung und die von Dalton und mir. Und sie rasiert Dalton, wodurch wir alle etwas präsentabler aussehen und größere Chancen haben, wohlwollend von den Dörflern empfangen zu werden. Nur Eden kommt nicht in den Genuss dieser Behandlung. Laut Ihrer Heiligkeit, weil sein Bart und das schäbige Aussehen helfen, seine Identität zu verschleiern.

Es ist eine schwammige Ausrede, die Eden niemals hätte gelten lassen, aber Mikails drohender Blick zwingt ihn, sich damit abzufinden. Und er sorgt dafür, dass all meine Mühen, Estella aufzuheitern, umsonst waren.

Als wir schließlich die Vorräte der Banditen durchgehen, deren Bestand an Trockenfrüchten durch Eden schon dezimiert wurde, stellt Mikail fest, dass ihre Trinkschläuche kein Wasser enthalten. Sondern eine bittere und stark nach Alkohol riechende Flüssigkeit, die er kurzerhand wegkippt. Wahrscheinlich ist das die richtige Entscheidung, denn Alkohol löst sicher keines unserer Probleme. Aber er hätte mich wenigstens einen Schluck probieren lassen können.

Danach begleite ich ihn zum Fluss, um die nun leeren Trinkschläuche auszuwaschen und aufzufüllen. Es ist mittlerweile dunkel, aber es ist eine klare Nacht, sodass es hell genug ist, um nicht über eine Wurzel zu stolpern. Möglicherweise habe ich mich auch an den Wald gewöhnt, denn ich muss nicht einmal mehr überlegen, in welcher Richtung der Fluss liegt.

»Da ist etwas, das ich mit dir besprechen will«, sagt Mikail, kaum dass wir aus dem Schatten der Bäume getreten sind. Er klingt bedächtig und ernst, als ob es um eine heikle Angelegenheit ging und es scheint, dass er mich nicht nur gebeten hat, mit ihm zu kommen, um ihm eine Hilfe zu sein.

Ich bleibe stehen und sehe ihn an. »Worum geht es?«

Mikail legt die Trinkschläuche am Ufer ab, ehe er sich wieder aufrichtet. »Darf ich fragen, worüber du vorhin mit Ihrer Heiligkeit gesprochen hast?«

Ich blinzle. »Was?«

»Eigentlich ist es nicht wichtig, worüber ihr gesprochen habt.« Er schüttelt knapp den Kopf. »Mir ist nur aufgefallen, dass ihr sehr dicht beieinander standet. Ich will dir nichts unterstellen, aber du solltest darauf achten, Abstand zu Ihrer Heiligkeit zu halten.«

Ich starre ihn an. Ich soll Abstand zu Ihrer Heiligkeit halten. Ich?!

»Ich will dir keine Vorwürfe machen, aber Ihre Heiligkeit sind -« Er bricht ab, als ich auflache. »Das meinst du wirklich ernst, oder?«

»Verzeihung?«, fragt er und bei seiner ahnungslosen Stimme hätte ich ihn am liebsten am Kragen gepackt und geschüttelt.

»Wessen Verlobte hat vorhin ihre Wut an ein paar Zweigen aus gelassen, weil ihr Verlobter damit beschäftigt war, einer anderen Frau die Haare zu machen?«

»Was … meinst du?«, stammelt Mikail und sein Blick huscht zurück zu den Bäumen. »Hat Stella etwas gesagt?«

»Das musste sie nicht.«

»Aber wieso sollte sie wütend sein? Ich habe Ihrer Heiligkeit nur geholfen.«

Ich seufze und lege ebenfalls die Trinkschläuche ab, die ich getragen habe. Das wird eine Weile dauern. »Verstehst du das wirklich nicht oder stellst du dich einfach dumm?«

»So ist das nicht. Sie ist die Heilige, das weißt du.«

»Sie ist die Heilige.« Ich nicke. »Und außerdem die schönste Frau im Königreich.«

Mikail hebt abwehrend eine Hand. »Das hat keine Bedeutung.«

»Und wie das Bedeutung hat! Versuch gar nicht, mir weiszumachen, es wäre dir nicht aufgefallen.«

»Es hat keine Bedeutung wie schön sie ist, weil es nichts daran ändert, wer sie ist. Und ich habe keinerlei unangebrachte Absichten ihr gegenüber.«

Ich mustere ihn einen Moment. Er klingt entschlossen und ich weiß, dass er es ernst meint. Aber ich erinnere mich auch an die Art, wie er Ihre Heiligkeit ansieht. Wie er sie anlächelt und wie sie ihn zum Erröten bringt. Auch alle Entschlossenheit der Welt hilft nicht, etwas daran zu ändern.

Ich schüttle den Kopf. »Selbst wenn das wahr ist, ist das nicht das Problem. Es geht nicht darum, dass du Ihrer Heiligkeit zu viel Aufmerksamkeit schenkst, sondern dass du Ihrer Hoheit zu wenig schenkst. Und du weißt selbst, woran das liegt.«

Er antwortet nicht. Er fährt sich mit der Hand durchs Haar und wendet sich von mir ab.

Ich weiß, dass Estella Mikail mindestens genauso gut kennt wie ich. Und dass sie ihm ebenfalls nicht zutrauen würde, der Heiligen Avancen zu machen. Aber ich denke, dass ihr diese Situation etwas vor Augen führt, das sie in Libera mit größter Mühe ignoriert hat. Und zwar, dass Mikails Gefühle für sie, sich auf ein Pflichtbewusstsein als ihr Verlobter beschränken, und dass das Auftauchen einer kranken, hilfsbedürftigen Frau ausgereicht hat, um dieses Pflichtbewusstsein zu überschatten. »Erinnerst du dich daran, wie ich dir gesagt habe, dass es eine blöde Idee ist, Ihre Hoheit zu heiraten?«

Mikail, der sich ein paar Schritte von mir entfernt hat, dreht sich zu mir um und hebt eine Hand. »Fang nicht wieder damit an.«

Ich zucke mit den Schultern. »Schaufel dir dein Grab.«

Mikail wendet sich wieder ab und geht zum Rand des Flusses, wo er in die Hocke geht und die Hände ins Wasser taucht.

Ich seufze und sammle die Trinkschläuche vom Boden auf. Ich weiß, das Mikails Situation nicht einfach ist. Und wenn er meine Worte damals völlig ignoriert hätte, wäre er jetzt vermutlich schon verheiratet.

Ich folge Mikail und gehe neben ihm in die Hocke. Dort lege ich die Trinkschläuche ab und schöpfe etwas Wasser aus dem Fluss, um zu trinken.

»Ich weiß, dass ich Ihrer Heiligkeit nicht zu nahe kommen sollte. Aber du weißt, wie unsere Situation aussieht und sie ist vielleicht die Heilige, aber sie ist auch …« Er zögert, als suche er nach der richtigen Formulierung. »Sie vertraut anderen nicht sehr schnell. Ich denke nicht, dass sie mir vertraut, aber sie scheint sich zumindest einigermaßen an mich gewöhnt zu haben. Und du weißt, warum ich weder dich noch Dalton um Hilfe bitten kann.«

Ich tauche einen Trinkschlauch in den Fluss. Ich will immer noch nicht wissen, was die Heilige davon halten würde, sich von mir tragen zu lassen und Dalton würde wohl vorher in Ohnmacht fallen. Und Eden ist nicht einmal eine Erwähnung wert. Aber obwohl Mikail recht hat, gibt es eine Sache, die mich an seinen Worten stört. »Wieso redest du über sie, als wäre sie ein verängstigtes, kleines Tier?« Vor meinem inneren Auge sehe ich das Gesicht der Heiligen mit einem höhnischen Blick und einem frechen Grinsen.

»Das denke ich nicht von ihr. Ich will nur sagen, dass ich keine Hintergedanken habe, während ich ihr helfe«, sagt er mit sanfter Stimme, als würde er sehr wohl über ein kleines Tier reden, und nimmt nun ebenfalls einen der Trinkschläuche.

»Du weißt also, dass sie nicht so lieb und sanftmütig ist wie ihr Ruf?«

Er lacht. »Ja, das weiß ich.«

Ich sehe ihn von der Seite an. Die Art, wie er das sagt und dabei lacht, wirken nicht sehr überzeugend. »Ich meine, sie gehört wahrscheinlich zu den Menschen, die daneben stehen und lachen, wenn jemand hinfällt.«

»Das weiß ich nicht, aber sie ist auf jeden Fall jemand, der flucht und schamlos andere beleidigt«, erwidert er, nicht weniger fröhlich als zuvor.

»Sehr charmant«, bemerke ich trocken. Aber ich bin überrascht, dass sie Mikail offenbar nicht sehr anders behandelt als mich. Und das wirft eine Frage auf. »Wieso magst du sie dann?«

Er lacht erneut, als hätte ich einen Witz gemacht. Oder als würde nur die Tatsache, dass wir über die Heilige reden, ihn in gute Stimmung versetzen.

Er hebt seinen Trinkschlauch aus dem Fluss und lässt das Wasser wieder hinauslaufen. »Wenn ich mit ihr rede, antwortet sie«, sagt er, den Blick auf den Trinkschlauch gerichtet, den er ausschüttelt. »Ohne zu kalkulieren oder irgendwelche Hintergedanken. Es ist ihr völlig egal, was ich von ihr denke oder ob sie mich wütend macht. Manchmal denke ich sogar, sie legt es darauf an.«

Es ist nicht so, dass ich nicht verstehen kann, was er meint. In unseren Kreisen sagen die Leute eine Sache und meinen eine andere. Mikail dagegen ist ehrlich und aufrichtig, wodurch ihm das Leben in der hohen Gesellschaft zuwider ist. Gleichzeitig kann er sich als Sohn und Erbe des Marquis auch nicht davon befreien. Und offenbar hat es seine Ansprüche an andere Leute stark gesenkt. »Ich will dir ja nicht deine Freude zerstören, aber es klingt nicht, als würde sie dich mögen.«

Er taucht den Trinkschlauch wieder ins Wasser. »Ich weiß. Das hat sie mir auch gesagt.«

Ich sehe auf meinen eigenen Trinkschlauch hinab. Die Heilige hat ihm also gesagt, dass sie ihn nicht leiden kann, ihn beleidigt und geflucht. Und aus irgendeinem Grund hat er sich trotzdem in sie verguckt. »Dich hats schlimm erwischt, Mann.«

Mikail wirft mir einen Blick zu. »So ist das nicht. Ich mag sie, ja, aber nicht auf eine unangebrachte Weise.«

Ich erwidere seinen Blick. »Woher willst du das wissen? Du warst noch nie verliebt.«

Ich höre, wie er den Atem anhält. »Das ist …«, setzt er an, nur um dann geräuschvoll auszuatmen. »Ich bin nicht so dumm, mich in die Heilige zu verlieben.«

Ich schüttle den Kopf und richte meinen Blick auf meinen Trinkschlauch, den ich nun befüllt habe. »Die Hälfte aller Probleme dieser Welt würden sich in Luft auflösen, wenn Menschen in der Lage wären, selbst zu entscheiden, in wen sie sich verlieben.«

»In deiner Welt vielleicht«, erwidert Mikail hochnäsig und ich werfe ihm einen verärgerten Blick zu. »Fang du nicht auch noch damit an! Ich kann mich gut unterhalten, auch mit Frauen, aber das heißt nicht, dass ich mich jedes Mal verliebe.«

»Ich sage nicht, dass du dich jedes Mal verliebst, aber ‚nur unterhalten‘ tust du dich nicht jedes Mal.« Ein unterschwelliger Vorwurf schwingt in seiner Stimme mit.

Ich lege den Trinkschlauch aus der Hand. »Na gut, ja! Was ist so schlimm daran zu lernen, was es bedeutet, mit einer Frau zusammen zu sein, bevor man eine heiratet? Dann landet man wenigstens nicht in der Situation, mit einer Frau verlobt zu sein, die für einen wie eine Schwester ist.«

Mikail sieht auf seine Hände hinab, die einen Trinkschlauch verschließen, aber ich habe das Gefühl, er versucht nur, meinem Blick auszuweichen. »Das ist auch eine Form von Liebe«, sagt er, als wäre es ein genauso guter Grund zum Heiraten. »Und du weißt, dass es bei Stella und mir nicht nur um uns geht.«

Ich muss über die Ironie seiner Worte lachen. »Was hast du gesagt, warum du die Heilige magst?«

Er hebt fragend den Kopf.

»Weil sie dir nichts vorspielt und dir sagt, was sie denkt? Aber du willst eine Ehe führen, bei der du deiner Frau vorspielst, du würdest sie lieben, und jegliche Gefühle leugnest, die du für eine andere Frau hast?« Er wäre nicht der Erste, der sich auf eine politische Ehe einlässt, ohne dabei Interesse an seinem Partner zu haben. Aber die meisten, die in so einer Position stecken, haben im Laufe ihrer Ehe eine oder mehrere Affären. Aber Mikail, mit seinem störrischen Charakter, würde es nicht über sich bringen, seine Frau zu betrügen.

»So muss es nicht kommen.« Mikail schüttelt den Kopf. »Die Dinge können sich ändern, wenn ich mich erst mal an den Gedanken gewöhnt habe.«

Ich schnaube. »Wie lange kennst du Ihre Hoheit schon? Wenn du mich fragst, behandelst du sie mit jedem Jahr mehr wie deine Schwester.«

Mikail antwortet nicht, aber ich kann förmlich sehen, wie er mit sich ringt.

Ich seufze und beschließe, das Thema zu wechseln. Seine Beziehung zu Estella geht mich schließlich nichts an. »Ich habe Ihrer Heiligkeit erzählt, dass der Attentäter mich zur Bühne gebracht hat.«

Er richtet abrupt den Blick auf mich. »Was?!«

»Ich glaube, jemand wollte die Tatsache ausnutzen, dass ein Alistair anwesend war«, fahre ich fort, während ich mich frage, ob Mikail überrascht darüber ist, dass ich eine Verbindung zu dem Attentäter habe oder dass ich Ihrer Heiligkeit davon erzählt habe. »Ich wusste nicht, ob es ihr aufgefallen ist, aber ich wollte reinen Tisch machen und ich dachte, es wäre eine nützliche Information für sie.«

»Was hat sie gesagt?«

Ich schnaube, während ich an das Gesicht der Heiligen denke. »Sie hat mich ausgelacht. Und nur damit du es weißt, sie war es, die sich so dicht vor mich gestellt hat, nicht ich.«

Er schüttelt den Kopf. »Aber wieso sollte sie das tun? Was hat sie gesagt?«

Erneut frage ich mich, worauf genau er sich bezieht. »Ich denke, sie weiß viel mehr über das Attentat, als sie sagt. Wenn es denn überhaupt ein Attentat auf sie war.«

»Wie meinst du das?«, fragt er mit scharfer Stimme.

Ich schlucke. Mitleid trifft es eher. Das waren ihre Worte und auch wenn ich mir sicher bin, dass sie mich provozieren wollte, glaube ich nicht, dass sie gelogen hat. Der Grund, weshalb sie lediglich etwas abweisend mir gegenüber ist, mich ansonsten aber duldet, scheint dem Umstand geschuldet zu sein, dass ich in etwas hineingezogen wurde, von dem ich nichts weiß. Und wenn sie davon weiß, ist die naheliegendste Erklärung, dass sie verantwortlich ist. Eine andere Möglichkeit wäre, dass sie eine Vorhersage gemacht hat, aber wenn sie wusste, dass es ein Attentat auf sie geben würde, wieso ist sie zur Veranstaltung gekommen?

»Hast du noch nicht darüber nachgedacht, wie eigenartig all das ist? Du hast einen Attentäter abgewehrt, der die Heilige töten wollte, obwohl sie mit Leichtigkeit eine Horde Bergtrolle abblocken und töten kann?«

»Vielleicht wusste die Person, die den Attentäter geschickt hat, nicht, wie stark Ihre Heiligkeit sind?«, erwidert Mikail, aber seine Worte klingen zögerlich, als würde er das selbst nicht glauben.

»Gut, sagen wir, es war so. Wieso hat sie sich nicht gewehrt? Du wurdest verletzt, dabei hätte sie euch beide einfach in einen Schild hüllen können.«

»Es ist alles so sehr schnell gegangen. Sie war überrascht.«

Ich schnaube. »Ein Attentäter, der mit lautem Geschrei auf sie zu rennt, ist eine Überraschung, aber plötzlich nach Sotten teleportiert zu werden, direkt zwischen ein paar Bergtrolle ist im Rahmen des Erwartbaren? Oder warum konnte sie in diesem Moment plötzlich einen Schild beschwören?«

Mikail atmet geräuschvoll aus und fährt sich mit der Hand durchs Haar. »Was willst du sagen?« Verhaltene Wut schwingt in seiner Stimme mit. »Dass Ihre Heiligkeit ein Attentat auf sich selbst verüben wollten, um es deiner Familie anzuhängen?«

Ich halte inne, denn daran habe ich noch gar nicht gedacht. Es wäre möglich. Wenn der Heiligen etwas passiert wäre und man meine Familie damit in Verbindung gebracht hätte, wäre das verheerend gewesen. Mit einem Attentat würde sogar mein Vater nicht davon kommen und wenn das Ziel auch noch die Heilige war, wäre unsere ganze Familie am Ende. Aber wenn das ihr Plan war, wieso sollte sie Mitleid mit mir haben? Weil ich für etwas büßen müsste, das mein Vater getan hat? Nein, das passt nicht. Wenn sie unsere Familie so sehr hasst, dass sie uns vernichten möchte, warum sollte sie Mitleid mit mir haben? Zumal ich zwar Abneigung von ihr spüre, aber keinen Hass. Und kein Mitleid.

»Ich weiß es nicht. Aber ich denke, es ist gefährlich, ihr völlig zu vertrauen. Es gibt zu viel, das nicht passt.«

Mikail schüttelt den Kopf. »Ihre Heiligkeit haben viele Geheimnisse, aber wer hat die nicht? Und nach allem, was Ihre Heiligkeit für uns getan haben, wäre es nicht richtig, sie zu verdächtigen.«

Ich habe so etwas erwartet. Mikail würde es nicht über sich bringen, einer Person zu misstrauen, die sein Leben und das seiner Schwester gerettet hat. Und es wäre eine Lüge zu behaupten, ich wäre ihr nicht auch dankbar. Aber ich weiß auch, dass manche Menschen gute Dinge aus schlechten Gründen tun.

Ich seufze. »Behalte es einfach im Hinterkopf. Und versuch, sie nicht zu verliebt anzusehen. Ich will nicht ständig deine Verlobte aufmuntern müssen.«

»Eh, ich habe nicht … was meinst du, du musst Stella aufmuntern?«, stammelt Mikail und ich kichere. »Sag bloß, das stört dich plötzlich.«

»So meinte ich das nicht. Ich will nur … Ich werde mit Stella reden.«

»Eine fabelhafte Idee!«, sage ich, während ich die Trinkschläuche zu meinen Füßen einsammle. »Ich bin sicher, du findest einen Weg, die Situation noch unangenehmer zu machen.«

»Was ist falsch daran zu reden?«, fragt Mikail. »Du hast doch gesagt, ich soll ihr mehr Aufmerksamkeit schenken.«

»Aber nicht, indem du ihr predigst, dass sie nicht eifersüchtig sein soll!«

Mikail seufzt und steht auf. »Für wie unsensibel hältst du mich?«

Ich stehe ebenfalls auf und strecke erleichtert die Beine. »Auf einer Skala von eins bis zehn? -2000. Du hättest nie bemerkt, dass sie überhaupt in dich verliebt ist, wenn ich es dir nicht gesagt hätte.«

»Ich habe es auch so bemerkt«, antwortet Mikail leicht abweisend, bevor er sich auf den Weg zurück macht.

»Sicher?«, frage ich, während ich ihm folge. »Weil du ziemlich trottelig bist, wenn es um diese Dinge geht.«

Mikail seufzt, lässt sich aber nicht zu einer Antwort herab.

Ich schnaube amüsiert. Er hätte es nicht bemerkt.



 

Als wir zu den anderen zurückkehren, setze ich mich neben Hilena ans Feuer, während Mikail mit Dalton redet, der bei den Banditen sitzt, um sie im Auge zu behalten. Und schon hier versagt seine angebliche Sensibilität, denn er bemerkt den erwartungsvollen Blick nicht, den Estella ihm zuwirft, und zieht es vor, mit einem Banditen in den Wald zu gehen.

Ich schüttle den Kopf, während ich denke, dass wenigstens die Banditen etwas von seiner Sensibilität abbekommen und mein Blick fällt auf die Heilige.

Auch sie beobachtet Mikail und ihr Blick sagt mir, dass auch sie sich darüber wundert, was er da tut. Dann, als hätte sie bemerkt, dass ich sie ansehe, richtet sich ihr Blick auf mich. Sie hebt eine Braue, als würde sie fragen, was ich da tue.

Ich sehe schnell woanders hin. Es ist eine instinktive Reaktion, über die ich mich ärgere. Ich will nicht, dass sie sich darin bestätigt sieht, dass ich Angst vor ihr habe. Und das habe ich nicht. Sie macht mich nur schrecklich nervös.

Und so versuche ich, dem Gespräch der Frauen zu lauschen, in das Annie alsbald auch die Heilige involviert. Offenbar findet sie großen Gefallen daran, ihr Wissen aus ihren Romanen hier anzuwenden, und ist entsprechend enttäuscht, als die Heilige keine Begeisterung dafür zeigt, uns allen Decknamen zu geben.

»Aber es gibt in Sotton bestimmt eine Menge Leute, die wissen, wie wir mit Vornamen heißen«, beharrt Annie, was sicher nicht zutrifft. Ich würde sogar wetten, dass die Menschen im Dorf nicht wüssten, wer wir sind, selbst wenn wir ihnen unsere vollständigen Namen nennen würden.

»Ein paar vielleicht, aber niemand weiß, dass wir in Sotton sind oder würde erwarten, dass Leute unseres Standes auf diese Weise umherziehen«, antwortet die Heilige mit sanfter, ruhiger Stimme. Man könnte meinen, diese Heilige und die, die mich zuvor höhnisch ausgelacht hat, sind zwei völlig verschiedene Personen.

»Das sagt Ihr, aber denkt Ihr nicht, dass Euer Name Aufmerksamkeit erregen könnte«, sagt Estella und es gelingt ihr nicht, die abweisende Kälte aus ihrer Stimme zu halten. Aber wenn der Heiligen das auffällt, lässt sie sich nichts anmerken.

»Möglicherweise«, antwortet sie mit nachdenklicher Stimme und mit einem Mal bin ich doch für Decknamen. Ich will die Heilige nicht mit ihrem Vornamen anreden müssen.

»Mika!« Annie rennt ihrem Bruder entgegen, als wäre sie erleichtert, dass er endlich aus dem Wald zurückkommt.

Ich dagegen bin mir nicht sicher, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn er noch eine Weile dort geblieben wäre.

»Was hältst du davon, wenn wir uns Decknamen geben?«, fragt sie aufgeregt, offensichtlich in der Annahme, dass Mikail ihr zustimmen wird. Und so wie ich ihn kenne, wird er zumindest keinen Einwand dagegen haben. Er war schon immer schwach, wenn es um Annie geht.

»Decknamen? Ich bin mir nicht sicher. Hältst du es denn für notwendig?«

Ich beobachte resigniert das Lächeln auf seinem Gesicht.

»Ihre Heiligkeit sagen, dass es ausreicht, wenn wir unsere Titel und Nachnamen nicht erwähnen.«

Mikails Blick huscht zu Ihrer Heiligkeit. »Das sehe ich auch so«, sagt er dann, als würde er auch ihr nicht widersprechen wollen.

»Dann wirst du Ihre Heiligkeit ab jetzt mit ihrem Vornamen anreden?«, fragt Annie weiter und Mikails Miene gefriert.

Ich muss mir auf die Lippe beißen, um nicht loszuprusten.

»Wir haben darüber gesprochen, dass der Vorname Ihrer Heiligkeit etwas zu auffällig ist«, geht Estella sofort dazwischen. »Aber wir können sie auch nicht wie bisher mit ‚Ihre Heiligkeit‘ anreden. Das versteht Ihr doch, nicht wahr?«

Ich verstehe ihre Sorgen ja, aber ich finde ihren Mut, sich so arglos mit Ihrer Heiligkeit anzulegen, keineswegs bewundernswert.

»Sollten wir uns nicht zuallererst auf eine Geschichte einigen, wer wir sind und was wir hier tun?«, sage ich, in dem Versuch, das Thema zu wechseln. Obwohl die Heilige nicht so aussieht, als würde sie Estella etwas übel nehmen.

»Wir können sagen, dass wir Abenteurer sind!«, sagt Annie plötzlich mit aufgeregter Stimme. »Wir haben den Wald erkundet und uns dabei verlaufen. Und dann wurden wir von Banditen überfallen.«

Es ist fast schon beeindruckend, wie sie unsere Situation wie eine Geschichte aus einem Buch klingen lassen kann. »Die wir dann ausgezogen haben?«, frage ich, denn ich bin mir sicher, dass das so nie in einem Buch stehen würde.

Aber Annie nickt selbstsicher. »Um sicherzugehen, dass sie keine Waffen verstecken. Das macht man so.«

»Das macht man so?«, frage ich, wobei ich denke, dass sie nur wiederholt, was ich vorhin gesagt habe. »Mir war nicht klar, dass ich mit einer erfahrenen Banditenjägerin spreche.«

»Hast du eine bessere Idee?« Sie verschränkt die Arme vor der Brust und sieht mich beleidigt an. Wahrscheinlich ist sie noch wütend wegen vorhin. »Wir können ihre Kleider nicht zurückgeben. Wir brauchen sie als Verkleidung.«

»Ja und wir müssten erklären können, wo ihre Kleider geblieben sind. Schließlich können wir nicht behaupten, dass sie unsere Kleider getragen haben«, sagt Mikail und ich nicke zustimmend. Unsere Kleider sind vielleicht das größere Problem. Möglicherweise wäre es schlau, sie im Wald zurückzulassen.

»Warum sagen wir nicht, dass wir sie im Wald gelassen haben?«, schlägt Estella vor, als hätte sie einen ähnlichen Gedanken gehabt »Was denkt Ihr, Eure Heiligkeit? Immerhin war es Eure Idee, dass wir die Banditen ausziehen.«

Schon wieder, denke ich mit zusammengebissenen Zähnen. Wie oft will sie noch auf die Heilige losgehen? Sie sollte auf Mikail losgehen. Das Ganze ist schließlich seine Schuld und bei ihm müsste ich mir keine Sorgen darum machen, wie er es aufnimmt.

»Unterstell Lorelai nicht etwas derart Vulgäres!«, zischt Eden plötzlich. Er saß bis eben stumm am Feuer, etwas abseits von uns.

Ich dachte, er würde schmollen, aber offenbar nimmt er es der Heiligen nicht allzu übel, dass sie ihm ihre Hilfsbereitschaft verweigert.

»Wovon bitte sprecht Ihr, Onkel? Ihre Heiligkeit sind lediglich überraschend einfallsreich in unserer unglücklichen Lage.« Selbst ihrer Rechtfertigung klingt, als würde sie der Heiligen etwas vorwerfen. Wobei sie nicht unrecht hat. Von uns allen scheint sie sich am wenigsten unwohl zu fühlen, und das trotz ihrer schlechten Gesundheit.

Diesmal antwortet die Heilige. »Die Dörfler werden keine Fragen stellen. Wir sind Fremde, Ausländer noch dazu, die Banditen in ihr Dorf bringen. Sie werden so wenig mit uns zu tun haben wollen wie möglich.« Ihre Stimme klingt ruhig und selbstsicher. Und glücklicherweise scheint sie sich auch diesmal nicht an Estellas Worten zu stören.

»Denkt Ihr nicht, dass sie uns dankbar sein werden?«, fragt Estella mit spitzer Stimme und ich unterdrücke ein Stöhnen. Dann werfe ich Mikail einen Blick zu, aber er ist damit beschäftigt, Ihre Heiligkeit anzusehen.

»Ihr solltet keine Dankbarkeit erwarten, Euer Hoheit«, erwidert die Heilige, nach wie vor mit ruhiger Stimme. »Wir sollten froh sein, wenn sie uns in ihr Dorf hineinlassen.«

»Basieren Eure Worte auf einer Eurer Vorhersagen?«, fragt Mikail, bevor Estella etwas sagen kann, aber ich würde nicht darauf wetten, dass das Absicht war.

»Nein. Aber ich denke, wir werden überaus verdächtig wirken«, antwortet die Heilige und ich kann ihr nur zustimmen. Ich habe mir bisher keine Gedanken darüber gemacht, aber sie hat recht mit allem, was sie sagt.

»Und woher wollt Ihr das wissen?«, zischt Estella, der es aber wohl eher darum geht, Ihrer Heiligkeit zu widersprechen, wobei auch immer.

»Ich denke, Ihre Heiligkeit haben recht«, sage ich und richte meinen Blick auf sie während ich mich frage, wie es kommt, dass die Heilige an so etwas denkt. Von uns allen sollte sie das am meisten behütete Leben geführt haben. »Diese Menschen wurden wahrscheinlich von den Banditen terrorisiert. Sie werden Fremden gegenüber skeptisch sein.«

»Es ist besser so«, stimmt Mikail zu, was mich wenig überrascht und ich halte meinen Blick auf die Heilige gerichtet.

»Wir wollen den Menschen hier keine Probleme bereiten und es ist nicht nötig, die Banditen ins Dorf zu bringen. Ich würde sagen, wir gehen zu zweit oder zu dritt ins Dorf und informieren den Dorfvorsteher darüber, dass wir die Banditen gefangen genommen haben. Er wird uns sagen können, wo wir sie hinbringen sollen.«

Die Heilige sieht nicht sehr begeistert aus. Mikail hat gesagt, sie hätte ihn beleidigt. Oder es zumindest versucht, da er es ihr offensichtlich nicht übel nimmt. Aber anders als er scheint sie nicht allzu viel für ihn übrigzuhaben.

»Wir sind nicht hier, um Banditen zu jagen, falls du es vergessen hast. Und ich würde es bevorzugen, nicht noch eine Nacht im Dreck verbringen zu müssen, und wenn ich in einem schäbigen Bauernhaus nächtigen muss«, sagt Eden abfällig und so wenig realistisch wie eh und je.

»Und falls Ihr es vergessen habt, Onkel, wir wollen nicht auffallen!«, sagt Estella in einem ähnlichen Tonfall.

Vielleicht liegt es in der Familie, denke ich.

»Das bedeutet, dass wir niemanden wissen lassen dürfen, dass wir dem Adel angehören. Ihr solltet versuchen, Euch wie ein gewöhnlicher Bürgerlicher zu verhalten.«

Eden schnaubt. »Du verlangst das Unmögliche von mir, Nichte!«

»Dann gebt Euch eben etwas Mühe!«

»Seine Hoheit hat recht. Es wird unmöglich eure Herkunft zu verbergen«, sagt die Heilige, woraufhin Eden erst überrascht zu ihr sieht und dann selbstgefällig zu Estella.

Aber die starrt Ihre Heiligkeit an. »Was sagt Ihr da? War es nicht Eure Idee, dass wir uns verkleiden?«

»Das reicht nicht aus, um den Leuten etwas vorzumachen. Es ist nicht schwer zu erkennen, was Ihr seid, und keinem gewöhnlichen Bürgerlichen würde das entgehen.«

Ich mustere sie, während sie spricht und kann ihr erneut nur zustimmen. Aber es gibt wohl kaum einen Ort, an den die Heilige gehen könnte, ohne aufzufallen. Und die Tatsache, dass sie einfache Kleider trägt, ändert nichts daran.

»Sprecht nicht mit mir, als wäre ich ein naives Kind!«, braust Estella auf, die die Worte der Heiligen irgendwie als Beleidigung aufgefasst hat.

Ich richte meinen Blick wieder auf Mikail.

Und diesmal bemerkt er es.

»Erwartet Ihr, dass ich durch die Gegen stolziere und mir ein Spitzentaschentuch vor die Nase halte, während ich auf jeden Menschen herunterschaue, der uns begegnet? Ihr müsst mich für sehr beschränkt halten.«

Ich sehe bedeutungsvoll zwischen ihm und Estella hin und her.

»Was würde einem einfachen Mann widerfahren, der Euch gegenüber keinen Respekt zeigt?«, fragt die Heilige, mit einem Anklang von Erschöpfung in der Stimme.

»Haltet Ihr mich für derart kleinlich? Selbstverständlich erwarte ich nicht, dass man mich meines Standes gemäß behandelt!«

Mikail öffnet ein paar Mal den Mund, aber offenbar fallen ihm nicht die richtigen Worte ein.

»Es geht nicht um Euch, Euer Hoheit. Ein einfacher Mann, der einen Adligen nicht erkennt, spielt mit seinem Leben.«

Ich nehme den Blick von Mikail, um die Heilige anzusehen.

Sie sieht Estella an und es liegt eine Kälte in ihrem Blick, als hätte Estella diesmal eine Grenze überschritten. »Er kann es sich nicht leisten, Euch nicht zu erkennen. Aus diesem Grund sind Bürgerliche sehr aufmerksam, insbesondere dann, wenn sie es mit Fremden zu tun haben.«

»D-Das … woher wollt Ihr das überhaupt wissen? Ihr habt Euer Leben im Tempel verbracht und seid kaum hinausgegangen«, stammelt Estella plötzlich verunsichert.

Die Heilige neigt leicht den Kopf, während sie Estella mit gerunzelter Stirn ansieht. »Ich bin auch eine Bürgerliche, Euer Hoheit.« Ihre Stimme klingt nicht weniger selbstsicher als zuvor und trotz der leichten Verwirrung ist ihr Blick stet. Als ob sie eine einfache, aber fundamentale Wahrheit aussprechen würde.

»So ein Unsinn! Ihr seid die Heilige! Und eine Baroness!«

Die Heilige beißt sich auf die Lippe und die Kälte kehrt in ihren Blick zurück. »Gott unterscheidet nicht zwischen Stand, nur Menschen tun das. Aus diesem Grund habe ich einen Titel, aber am Ende des Tages, Euer Hoheit, bin ich die Tochter eines Schuhmachers.«

Ich schlucke, während ich Ihre Heiligkeit ansehe, und eine Gänsehaut breitet sich auf meinen Armen aus.

»Jeder weiß um Eure Taten für unser Königreich, Eure Heiligkeit. Bitte würdigt Euch nicht herab.« Estellas Worte klingen nun mehr wie eine Entschuldigung.

»Ich würdige mich herab?« Die Heilige gibt ein leises Lachen von sich, aber es hat nichts Freundliches an sich. Ihr Blick scheint sogar noch frostiger zu werden. »Haltet Ihr es für eine Schande, bürgerlich zu sein?«

»So habe ich es nicht gemeint.«

Die Heilige lehnt sich plötzlich nach hinten und ich blinzle verdutzt, als sie ihren Fuß in die Höhe hält.

»Ich bin sicher, Seine Hoheit Kronprinz Adrian stellt Euch genug Geld zur Verfügung, um alle Schuhe kaufen zu können, die Ihr Euch wünscht.« Ihr Blick ist auf ihren Fuß gerichtet, der in einem schneeweißen Schuh steckt. Einem Schuh, der für jede adlige Dame zu schlicht wäre, denn es fehlt ihm an jeglichen Verzierungen und er ist flach und aus einfachem Material. Ein Schuh, wie ihn gewöhnliche Leute tragen.

Doch während die Heilige ihn ansieht, schmälern sich ihre Augen mit Zuneigung und sie betrachtet den Schuh, als wäre er etwas unheimlich Wertvolles. »Aber selbst mit dem Geld des gesamten Königreichs werdet Ihr nie in den Genuss kommen, Schuhe zu tragen, die mit derselben Liebe und Sorgfalt für Euch und Euch allein hergestellt wurden wie diese hier.« Sie senkt ihren Fuß wieder und richtet ihren Blick auf Estella. »Es gibt keinen Grund, sich um meine Würde zu sorgen. Denn ich habe mich nicht für eine Sekunde in meinem Leben dafür geschämt, die Tochter meines Vaters zu sein.«

Ich starre sie an und den unerschütterlichen Stolz, den sie ausstrahlt. Es ist nicht die Art von Stolz, vor dem Adlige triefen, die bei jeder Gelegenheit auf ihren Titel pochen. Es liegt keine Arroganz darin, sondern Selbstbewusstsein und Überzeugung. Ungeachtet dessen, dass sie in einer Runde sitzt, die aus den Kindern des Hochadels besteht, aus der sie sich selbst ausschließt. Mehr noch, es ist, als hätte sie genau das gewollt.

Ich atme den Atem aus, den ich, ohne es zu merken, angehalten habe. Ah, denke ich, noch immer unfähig den Blick von Ihrer Heiligkeit zu nehmen. Das ist es, was Mikail gemeint hat.



 

Am nächsten Tag erfahre ich zwei Dinge und beide sind auf ihre Art beunruhigend. Erstens: Jemand hat das Problem, wie wir Ihrer Heiligkeit von nun an anreden sollen, gelöst, und zwar mit ‚Miss Lori‘. Und mit ‚jemand‘ meine ich Mikail, denn niemand sonst würde auf die Idee kommen, ‚Miss‘ vor einen Spitznamen zu setzen. Ich bezweifle, dass ich das über die Lippen bringen werde, wenn ich mit der Heiligen spreche. Schon die Vorstellung, ihren Vornamen zu benutzen hat mich abgeschreckt, aber ein Spitzname ist völlig ausgeschlossen. Insbesondere wenn man eine unpassende Anrede davor setzt.

Zweitens: Nach dem Aufwachen stelle ich fest, dass ich die Präsenz der Heiligen spüren kann, was so eigenartig ist, dass ich zunächst glaube, noch gar nicht aufgewacht zu sein. Aber dann begreife ich, dass sich die Heilige einfach der raffinierten und illegalen Methode einer falschen Energiequelle bedient hat. Das Beunruhigende daran ist, dass die Energiequelle so überzeugend ist, dass es nicht das erste Mal sein kann, dass sie eine herstellt. Sie hat auch unsere Kleider verzaubert und möglicherweise sind verzauberte Gegenstände von Interesse für sie und sie hat gelernt, wie man sie herstellt.

Aber wer hat der Heiligen beigebracht, etwas Illegales herzustellen? Und wieso ist sie so gut darin?

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