Tod der Heiligen

XXVII.

Mikail braucht ewig, um alle Goldfäden aus meinen Haaren zu entwirren, aber er beharrt stur darauf, nicht das Messer zu nehmen. Aber ich muss zugeben, dass er geschickt ist und so vorsichtig, dass es nicht einmal ziept. Und schließlich döse ich vor mich hin, während nach und nach die anderen umgezogen aus dem Wald zurückkehren.

Es dämmert als Mikail endlich fertig ist, aber zu unserem Glück haben die Banditen einiges an Vorräten dabei. Getrocknete Früchte und Dörrfleisch, sowie ein paar Trinkschläuche, deren Inhalt Mikail jedoch in die Büsche kippt. Vermutlich befand sich Alkohol darin und so sehr ich ihn dafür treten möchte, komme ich nicht umhin zu bemerken, dass diese Vorräte nicht aus dem Wald stammen. Und sie sind üppig, sodass die Banditen und wir mehrere Tage über die Runden kommen werden.

Außer mir scheint sich aber niemand darüber zu wundern, dass ein paar Banditen, deren ‚Lager‘ ein Loch im Boden ist, in dem sie ihre Beute verstecken, so gut versorgt sind. Nimmt man die Tatsache dazu, dass die Banditen entgegenkommende Gefangene sind, die keinen Ärger machen, so als würden sie nicht die geringsten Sorgen plagen, brauche ich keinen Weltstrom, um meine Schlüsse zu ziehen. Aber das wird sich zeigen.

»Eure Heiligkeit?« Annabella, die neben mir am Lagerfeuer sitzt, rückt etwas näher an mich heran. Sie hat mit der Prinzessin, Hilena und Jake geplaudert, wobei letzterer sich nur mit mäßigem Interesse beteiligt hat, da er damit beschäftigt zu sein scheint, mich im Auge zu behalten.

Ich sehe Annabella fragend an, die ein entschlossenes Funkeln in den Augen hat.

»Stella, Hilena und ich haben darüber geredet, wie wir uns morgen im Dorf verhalten sollen, und ich habe gesagt, dass wir aufhören sollten, uns mit unseren Titeln anzureden. Ich spreche zwar kein Sottisch, aber man weiß ja nie, wer zuhört.«

Ich nicke. »Eine berechtigte Sorge.«

Annabella strahlt mich an, offenbar stolz darauf, dass ich ihr zustimme. »Und ich dachte, es wäre eine gute Idee, wenn wir uns Decknamen geben, weil wir doch inkognito unterwegs sind. In Büchern machen sie das immer.«

Ich weiß nicht warum, aber sie scheint begeistert von diesem Vorschlag zu sein. »Ich stimme Euch zu, dass wir unsere Titel und unsere Nachnamen für uns behalten sollten, aber bei unseren Vornamen sollte niemand Verdacht schöpfen.«

Sie macht ein enttäuschtes Gesicht. »Aber es gibt in Sotton bestimmt eine Menge Leute, die wissen, wie wir mit Vornamen heißen.«

Das bezweifle ich. Der sottische Adel tut das vielleicht, aber ich glaube nicht, dass sich das gemeine Volk allzu sehr für Ishitar interessiert. »Ein paar vielleicht, aber niemand weiß, dass wir in Sotton sind oder würde erwarten, dass Leute unseres Standes auf diese Weise umherziehen.«

Annabella zieht einen Flunsch.

»Das sagt Ihr, aber denkt Ihr nicht, dass Euer Name Aufmerksamkeit erregen könnte«, sagt Estella mit kühler Stimme. Sie sitzt auf Annabellas anderer Seite und funkelt mich verärgert an, als wäre auch sie enttäuscht davon, der Chance beraubt worden zu sein, sich einen Decknamen zu geben. Aber ich weiß, dass das nicht der Grund ist, denn sie scheint schon seit einer Weile wütend auf mich zu sein.

»Möglicherweise«, antworte ich, denn Lorelai ist in der Tat kein gewöhnlicher Name. Aber ich weiß nicht, wie bekannt er in Sotton ist oder ob er für das sottische Ohr bedeutend fremdartiger klingt, als ein typischer Name aus Ishitar.

»Mika!« Annabella springt auf, als ihr Bruder zwischen den Bäumen hervorkommt. Er hat einen der Banditen, der sein persönliches Geschäft erledigen musste, in den Wald begleitet und ich weiß nicht, ob ich beeindruckt sein soll, dass er sich für jeden einzelnen die Mühe macht. Er hat ihnen sogar erlaubt, die Decken zu behalten, die sie zum Schlafen benutzt haben, um sich darin einzuwickeln.

»Was hältst du davon, wenn wir uns Decknamen geben?«

»Decknamen?«, wiederholt er und runzelt die Stirn. »Ich bin mir nicht sicher. Hältst du es denn für notwendig?« Er lächelt sie an, als ginge es um ein Spiel, das er mitspielen würde, wenn sie es wollte.

»Ihre Heiligkeit sagen, dass es ausreicht, wenn wir unsere Titel und Nachnamen nicht erwähnen.«

Mikail wirft mir einen kurzen Blick zu und nickt. »Das sehe ich auch so.«

»Dann wirst du Ihre Heiligkeit ab jetzt mit ihrem Vornamen anreden?«, fragt Annabella und Mikail, der sich gerade setzen wollte, hält inne. Er sieht mich an und macht ein überrumpeltes Gesicht, als hätte er nicht daran gedacht, dass das die Konsequenz aus seinen Worten ist. Oder als hätte er vergessen, wie ich mit Vornamen heiße.

»Wir haben darüber gesprochen, dass der Vorname Ihrer Heiligkeit etwas zu auffällig ist«, sagt Estella plötzlich mit recht lauter Stimme. »Aber wir können sie auch nicht wie bisher mit ‚Ihre Heiligkeit‘ anreden. Das versteht Ihr doch, nicht wahr?« Sie sieht mich an, als würde ich darauf bestehen, dass man mich mit meinem Titel anspricht.

»Sollten wir uns nicht zuallererst auf eine Geschichte einigen, wer wir sind und was wir hier tun?«, sagt Jake, den Blick auf mich gerichtet. Er scheint mir die Neckerei von zuvor übelzunehmen.

»Wir können sagen, dass wir Abenteurer sind!«, sagt Annabella mit funkelnden Augen. »Wir haben den Wald erkundet und uns dabei verlaufen. Und dann wurden wir von Banditen überfallen.«

»Die wir dann ausgezogen haben?«, fragt Jake skeptisch.

Aber Annabella lässt sich davon nicht einschüchtern und nickt energisch. »Um sicherzugehen, dass sie keine Waffen verstecken. Das macht man so.«

»Das macht man so? Mir war nicht klar, dass ich mit einer erfahrenen Banditenjägerin spreche.« Jakes Stimme hat einen neckischen Unterton.

»Hast du eine bessere Idee? Wir können ihre Kleider nicht zurückgeben. Wir brauchen sie als Verkleidung«, erwidert Annabella beleidigt.

»Ja und wir müssten erklären können, wo ihre Kleider geblieben sind«, wirft Mikail ein. »Schließlich können wir nicht behaupten, dass sie unsere Kleider getragen haben.«

»Warum sagen wir nicht, dass wir sie im Wald gelassen haben?«, schlägt Estella vor.

Ich folge der Unterhaltung nur mäßig interessiert, aber Estella richtet ihren Blick plötzlich auf mich. »Was denkt Ihr, Eure Heiligkeit? Immerhin war es Eure Idee, dass wir die Banditen ausziehen.«

Und deshalb ist es jetzt meine Aufgabe eine Lösung zu finden, denke ich empört und genervt davon, dass sie mich in die Unterhaltung hineinziehen will.

»Unterstell Lorelai nicht etwas derart Vulgäres!«, kommt mir unerwartet Eden zur Hilfe. Er ist in letzter Zeit so ungewöhnlich ruhig, dass ich dazu neige seine Präsenz zu vergessen, wie die von Dalton.

»Wovon bitte sprecht Ihr, Onkel?«, gibt Estella in einem schnippischen Tonfall zurück. »Ihre Heiligkeit sind lediglich überraschend einfallsreich in unserer unglücklichen Lage.«

Ich runzle die Stirn. Soll das ein Kompliment sein? »Die Dörfler werden keine Fragen stellen«, sage ich gelassen. »Wir sind Fremde, Ausländer noch dazu, die Banditen in ihr Dorf bringen. Sie werden so wenig mit uns zu tun haben wollen wie möglich.«

»Denkt Ihr nicht, dass sie uns dankbar sein werden?«, fragt Estella etwas empört.

»Ihr solltet keine Dankbarkeit erwarten, Euer Hoheit. Wir sollten froh sein, wenn sie uns in ihr Dorf hineinlassen.«

»Basieren Eure Worte auf einer Eurer Vorhersagen?«, fragt Mikail, bevor Estella, die schon wütend den Mund geöffnet hat, etwas sagen kann.

»Nein. Aber ich denke, wir werden überaus verdächtig wirken.«

»Und woher wollt Ihr das wissen?«, fragt Estella mit scharfer Stimme, als ob sie meinen überraschenden Einfallsreichtum vergessen hätte.

»Ich denke, Ihre Heiligkeit haben recht«, sagt Jake, obwohl er mich überaus misstrauisch beobachtet. »Diese Menschen wurden wahrscheinlich von den Banditen terrorisiert. Sie werden Fremden gegenüber skeptisch sein.«

»Es ist besser so«, sagt Mikail. »Wir wollen den Menschen hier keine Probleme bereiten und es ist nicht nötig, die Banditen ins Dorf zu bringen. Ich würde sagen, wir gehen zu zweit oder zu dritt ins Dorf und informieren den Dorfvorsteher darüber, dass wir die Banditen gefangen genommen haben. Er wird uns sagen können, wo wir sie hinbringen sollen.«

Während ich Mikail ansehe, spüre ich eine Welle der Erschöpfung in mir aufsteigen. Er weiß also sehr wohl, dass wir die Banditen nicht so einfach loswerden. Ich will gar nicht daran denken, was wir auf dieser Reise alles tun werden müssen, weil es das Richtige ist.

Eden schnalzt mit der Zunge. »Wir sind nicht hier, um Banditen zu jagen, falls du es vergessen hast. Und ich würde es bevorzugen, nicht noch eine Nacht im Dreck verbringen zu müssen, und wenn ich in einem schäbigen Bauernhaus nächtigen muss.«

Als ich Eden ansehe, muss ich mich zusammenreißen, um nicht selbstzufrieden zu grinsen. Dass ich Jake und Mikail rasiert habe, ist natürlich nicht unbemerkt geblieben und ich habe auch Dalton geholfen, der den stärksten Bartwuchs unter den Männern hat. Aber bei Eden habe ich behauptet, dass sein Bart dabei hilft, seine Identität zu verschleiern, was in seinem Fall besonders wichtig ist, da er ein Prinz ist. Ich habe nicht erwartet, damit durchzukommen, aber sehr zu meiner Überraschung hat er nicht weiter darauf beharrt.

»Und falls Ihr es vergessen habt, Onkel«, sagt Estella und zur Abwechslung richtet sich ihr energischer Tonfall nicht gegen mich. »Wir wollen nicht auffallen! Das bedeutet, dass wir niemanden wissen lassen dürfen, dass wir dem Adel angehören. Ihr solltet versuchen, Euch wie ein gewöhnlicher Bürgerlicher zu verhalten.«

Eden schnaubt. »Du verlangst das Unmögliche von mir, Nichte!«

»Dann gebt Euch eben etwas Mühe!«, beharrt Estella, was Eden mit einem abfälligen Blick bedenkt.

»Seine Hoheit hat recht«, sage ich und kann nicht glauben, dass der Moment gekommen ist, wo ich Eden zustimme. »Es wird unmöglich eure Herkunft zu verbergen.«

Estella dreht abrupt den Kopf in meine Richtung und sieht mich an, als hätte ich einen schlimmen Verrat an ihr begangen. »Was sagt Ihr da? War es nicht Eure Idee, dass wir uns verkleiden?«

»Das reicht nicht aus, um den Leuten etwas vorzumachen. Es ist nicht schwer zu erkennen, was Ihr seid, und keinem gewöhnlichen Bürgerlichen würde das entgehen.«

»Sprecht nicht mit mir, als wäre ich ein naives Kind! Erwartet Ihr, dass ich durch die Gegen stolziere und mir ein Spitzentaschentuch vor die Nase halte, während ich auf jeden Menschen herunterschaue, der uns begegnet? Ihr müsst mich für sehr beschränkt halten.« Sie sieht mich mit einem kühlen Blick und einer beherrschten Miene an und ich weiß, dass ihr nicht klar ist, dass sogar in diesem Moment jede Pore ihres Körpers verrät, dass sie adlig ist.

Ich seufze. »Was würde einem einfachen Mann widerfahren, der Euch gegenüber keinen Respekt zeigt?«

Estella rümpft die Nase. »Haltet Ihr mich für derart kleinlich? Selbstverständlich erwarte ich nicht, dass man mich meines Standes gemäß behandelt!«

»Es geht nicht um Euch, Euer Hoheit. Ein einfacher Mann, der einen Adligen nicht erkennt, spielt mit seinem Leben. Er kann es sich nicht leisten, Euch nicht zu erkennen. Aus diesem Grund sind Bürgerliche sehr aufmerksam, insbesondere dann, wenn sie es mit Fremden zu tun haben.«

Sie blinzelt und ihr Blick huscht zu Mikail, als wolle sie sich vergewissern, ob er mir zustimmt. Aber seine Augen sind nachdenklich auf mich gerichtet.

»D-Das … woher wollt Ihr das überhaupt wissen?« Estella sieht wieder zu mir, doch ihre Stimme klingt weniger zuversichtlich als zuvor. »Ihr habt Euer Leben im Tempel verbracht und seid kaum hinausgegangen.«

Ich würde darauf wetten, dass ich, sogar wenn ich nur mein Leben als Lorelai betrachte, mehr Kontakt zu gewöhnlichen Menschen habe als sie. Aber darüber hinaus scheint sie etwas Wichtiges zu vergessen. »Ich bin auch eine Bürgerliche, Euer Hoheit.«

Sie starrt mich an. »So ein Unsinn! Ihr seid die Heilige! Und eine Baroness!«

Ich beiße mir auf die Lippe, um nicht aufzulachen. Sie weiß genauso gut wie ich, dass der Titel meiner Familie eine rein symbolische Bedeutung hat, die allein schon als Beleidigung gewertet werden kann. Als wäre es eine Schande, wenn die Heilige eine Bürgerliche ist. »Gott unterscheidet nicht zwischen Stand, nur Menschen tun das. Aus diesem Grund habe ich einen Titel, aber am Ende des Tages, Euer Hoheit, bin ich die Tochter eines Schuhmachers.«

Es ist still auf meine Worte hin und ich frage mich, ob der Gedanke, dass die Heilige nicht adlig ist, so schwer zu ertragen ist. Gleichzeitig hat keiner von ihnen meine Familie je als dem Adel angehörig betrachtet und sie bestenfalls ignoriert. Es ist so schrecklich scheinheilig, jetzt ihre verdutzten Gesichter zu sehen.

Estella räuspert sich. »Jeder weiß um Eure Taten für unser Königreich, Eure Heiligkeit. Bitte würdigt Euch nicht herab.«

Ich lache leise. »Ich würdige mich herab?«, wiederhole ich, wobei ich mich bemühe, den Ärger, der in mir aufsteigt, zurückzuhalten. »Haltet Ihr es für eine Schande, bürgerlich zu sein?«

Sie senkt den Blick. »So habe ich es nicht gemeint.«

Ich lehne mich etwas nach hinten, um meine Beine zu strecken, die ich zuvor in einem Schneidersitz verschränkt hatte. Dann halte ich meinen linken Fuß in die Luft, sodass jeder meinen Schuh sehen kann. »Ich bin sicher, Seine Hoheit Kronprinz Adrian stellt Euch genug Geld zur Verfügung, um alle Schuhe kaufen zu können, die Ihr Euch wünscht«, sage ich, während ich den unauffälligen weißen Schuh an meinem Fuß betrachte. Er ist aus einem Leinenstoff gefertigt, mit einer weichen Sohle, die das Gehen sehr angenehm macht. Und er passt meinem Fuß so perfekt, dass ich nicht einmal wunde Stellen oder gar Blasen von ihm hatte. »Aber selbst mit dem Geld des gesamten Königreichs werdet Ihr nie in den Genuss kommen, Schuhe zu tragen, die mit derselben Liebe und Sorgfalt für Euch und Euch allein hergestellt wurden wie diese hier.« Ich senke meinen Fuß wieder und sehe Estella an. »Es gibt keinen Grund, sich um meine Würde zu sorgen. Denn ich habe mich nicht für eine Sekunde in meinem Leben dafür geschämt, die Tochter meines Vaters zu sein.«

Estella, die recht irritiert zwischen mir und meinen Füßen hin und hergesehen hat, betrachtet mich nun mit einem ernsten Blick. Dann senkt sie den Kopf. »Es war nicht meine Absicht, Euch zu beleidigen. Bitte verzeiht mir.«

Ich nicke nur, während ich so tue, als würde mir entgehen, dass ich von allen Seiten angestarrt werde. Wahrscheinlich ist es für sie alle unvorstellbar, dass ich mich als Bürgerliche betrachte, obwohl mir ein Titel verliehen wurde. Als ob es nichts Schöneres gäbe, als einen Titel zu haben und auch zu dem verlogenen Pack zu gehören, das seine Seele für Macht und Geld verkauft. Ich kann es gar nicht erwarten, endlich meinen Plan durchzuführen und ein neues Leben zu beginnen, in dem kein Adliger eine Rolle spielen wird!

Ich bin damit einverstanden, dass diese Daten zum Zweck der Kontaktaufnahme gespeichert und verarbeitet werden. Mir ist bekannt, dass ich meine Einwilligung jederzeit widerrufen kann.*

* Kennzeichnet erforderliche Felder
Vielen Dank für Deinen Kommentar :)

Kommentar

Konstruktive Kritik ist immer erwünscht. Schreib mir, was du denkst und hilf mir damit weiter :)

Wir benötigen Ihre Zustimmung zum Laden der Übersetzungen

Wir nutzen einen Drittanbieter-Service, um den Inhalt der Website zu übersetzen, der möglicherweise Daten über Ihre Aktivitäten sammelt. Bitte überprüfen Sie die Details in der Datenschutzerklärung und akzeptieren Sie den Dienst, um die Übersetzungen zu sehen.