Tod der Heilgen
Repeat: Mikail
Ich atme kontrolliert aus und konzentriere mich auf meine Aura. Als ich wieder einatme, hebe ich einige Stöcke, Steine und was sonst noch lose auf dem Boden herumliegt mit meiner Telekinese in die Luft.
Training ist die beste Methode, um einen aufgebrachten Geist zu beruhigen, und ich muss mich beruhigen, bevor ich Ihrer Heiligkeit wieder gegenüber treten kann. Wütend zu werden, bringt mich nicht weiter, zumal es nicht Ihre Heiligkeit ist, gegen die sich meine Wut richtet.
Die Stöcke und Steine um mich herum erzittern, als ich an das Gesicht der Heiligen denke und den verwirrten Ausdruck darauf, als würde sie nicht verstehen, weshalb ich ihr Verhalten kritisiere.
Ich verstehe, dass die Heilige mehr Schmerz und Leid gesehen hat als ich und wegen ihrer Krankheit auch mehr davon erfährt, aber das sollte nicht in dieser Gleichgültigkeit resultieren. Wie kommt es, dass die Heilige es gewohnt ist, Schmerzen nicht nur auszuhalten, sondern dabei auch noch zu lächeln, als wären sie nicht weiter von Bedeutung für sie?
Der Tempel und meine Familie stehen nicht in engem Kontakt und ich weiß nicht mehr über die Heilige und ihr Leben als jeder andere. Aber in Anbetracht ihrer Stellung bin ich davon ausgegangen, dass sie ein Leben führt, dass mit dem der königlichen Familie vergleichbar ist. Doch das scheint auf mehreren Ebenen eine falsche Annahme zu sein.
Ein lautes Rascheln reißt mich aus meinen Gedanken und ich wirble herum, erschrocken, dass ich das Geräusch nicht nur erst so spät wahrgenommen habe, sondern keine Präsenz spüre. Und ich begreife sofort, wieso.
»Eure Heil -«, setze ich an, geschockt Ihre Heiligkeit auf mich zurennen zu sehen. Doch ich komme nicht einmal dazu, zu Ende zu sprechen, bevor ich von ihr umgerissen werde.
Wir gehen zu Boden und während ich mich noch wundere, woher Ihre Heiligkeit diese Kraft nimmt, stützt sie sich hoch, gerade so weit, dass sie mich ansehen kann, und presst einen Finger auf ihre Lippen.
Ich versteife mich, als ich verstehe, dass wir uns verstecken. Ich nicke ihr zu und rühre mich ansonsten nicht.
Die Heilige richtet sich etwas weiter auf und schaut durch die Büsche neben uns.
Ich schlucke und versuche ihrem Blick zu folgen, ohne dabei den Kopf zu drehen. Und dann höre ich das laute Preschen von Pferdehufen, die von einer Sekunde zur anderen so nahe sind, als wären sie direkt vor uns. Ich drehe den Kopf.
Durch das Geäst der Büsche kann ich sie nicht deutlich sehen, aber ich kann Pferde erkennen. Und Männer. Die Pferde kommen zum Stehen und die Männer reden. Sie sind zu weit weg, um sie zu verstehen, aber die Tatsache, dass sie nicht weiterreiten, bedeutet wohl, dass sie eine Vermutung haben, dass wir hier sind.
»Verfluchter Mist!«
Ich sehe verdutzt zu Ihrer Heiligkeit auf, überrascht solch einen groben Ausdruck aus ihrem Mund zu hören. Aber sie sieht mit verbissener Miene zu den Männern, als täten sie etwas Besorgniserregendes.
Ich hebe vorsichtig den Kopf und es gelingt mir einen besseren Blick auf die Männer zu werfen. Und dann verstehe ich, was die Heilige beunruhigt. Es sind Soldaten. Und sie tragen Waffen.
Ich weiß, dass Sotton eine Waffe entwickelt hat, die beträchtlichen Schaden anrichten kann, ohne dass dafür besonderes Geschick erforderlich ist. In Ishitar wurde sie als unritterlich und als Waffe für Feiglinge bezeichnet, und der König hat sie verboten. Aber mein Vater hat mit Erlaubnis des Königs einige dieser Schießeisen in seinen Besitz gebracht, um sie zu untersuchen und wie man sich gegen sie zur Wehr setzt.
Ich bin zuversichtlich, dass ich einen Schuss mit meiner Aura abwehren kann, aber würde ich das tun, würde ich unsere Anwesenheit verraten. Nicht nur, weil es auffallen würde, wenn die Kugel von einem Schild abprallen würde, sondern auch weil ich keinen der Soldaten spüren kann, was nahelegt, dass sie mehr Energie besitzen als ich. Ich kann nur darauf zählen, dass Ihre Heiligkeit meine Präsenz verbirgt.
Ich sehe zur Heiligen, die mit konzentrierter Miene die Augen zusammenkneift. Ich bin mir nicht sicher, ob sie weiß, was ein Schießeisen ist, aber wüsste sie es nicht, würde sie wohl eher ein verwirrtes Gesicht machen.
»Da war etwas«, höre ich einen der Soldaten sagen, die jetzt nah genug sind, um sie zu verstehen.
»Und wenn da irgendein Vieh durch die Büsche gerannt ist, na und? Und überhaupt, ich sehe da nichts.«
»Wir haben kein einziges Tier oder Monster gesehen, seit wir diesen Wald betreten haben. Aber das sehen wir gleich.«
Ich kneife die Augen zusammen und erkenne, wie einer der Männer den Arm hebt. Dann höre ich ein Klicken, das Geräusch eines Schießeisens, das entsichert wird.
Ich sehe zu Ihrer Heiligkeit auf, deren Blick starr auf die Soldaten gerichtet ist. Ich weiß nicht, ob sie in Schock ist, aber sie rührt sich nicht. Und so packe ich sie und ziehe sie von mir hinunter.
Im selben Moment knallt es.
Ich presse Ihre Heiligkeit zu Boden und beuge mich über sie, wobei ich versuche, ihren Kopf so gut es geht mit meinem Oberkörper abzuschirmen. Sie trägt weder ihren Mantel noch ihren Schleier und auch wenn ich keine Aura benutzen kann, ist mein Körper widerstandsfähiger als ihrer.
Erde und Zweige trommeln auf meinen Rücken, aber das ist alles. Die Kugel ist direkt neben uns eingeschlagen und ich atme erleichtert auf. Aber ich rühre mich nicht, sehe nicht einmal nach, was die Soldaten tun, und hoffe, dass sie weiterziehen.
»Ich sag doch, da ist nichts.«
»Hm … War wohl doch nur Einbildung.«
Ich bin erleichtert, diese Worte zu hören, doch da erregt ein anderes Geräusch meine Aufmerksamkeit. Es ist ein leises, würgendes Geräusch und ich sehe erschrocken zu Ihrer Heiligkeit, in der Annahme, ich hätte nicht gut genug aufgepasst und mein Gewicht würde ihr die Luft abschnüren. Aber dann sehe ich ihr Gesicht.
Ihre Augen sind geweitet und starr in die Luft gerichtet, und es liegt eine Panik darin, als dürfe sie auf keinen Fall in eine andere Richtung sehen. Ihr Atem geht schwer, als bekäme sie keine Luft und ihre Zähne graben sich in ihre Unterlippe, so fest, dass sie schon ganz weiß ist.
Es können nicht die Soldaten sein. Die Art, wie sie die Soldaten eben noch angesehen hat, sagt mir, dass es nicht die Soldaten sind, vor denen sie sich fürchtet. Das einzige, was bleibt, ist …
Ich drücke mich hoch und verlagere mein Gewicht auf meine Arme und Beine, bemüht darum, meinen Körper von ihrem zu heben und sie nicht mehr zu berühren. Ohne meine Aura zu benutzen und ohne mich zu weit aufzurichten und Gefahr zu laufen, die Aufmerksamkeit der Soldaten zu erregen.
Der Atem der Heiligen wird ruhiger. Er geht schnell, aber immerhin klingt es, als bekäme sie wieder Luft. Aber ich gebe mir Mühe, ihr nicht ins Gesicht zu sehen. In dieser Situation erscheint es mir am besten, ihr das Gefühl zu geben, meine Aufmerksamkeit läge auf den Soldaten und nicht auf ihr.
»Können wir dann weiter? Wer weiß, wie lange wir hier bleiben müssen, wenn wir wegen jedem wackelnden Ast anhalten.«
Ich schiele zu den Soldaten, die sich reichlich Zeit lassen. Vielleicht wäre es besser, sich zu zeigen. Da Ihre Heiligkeit schon genug gelitten hat und wir noch eine Weile durch den Wald gehen müssen, ist es nicht falsch diese Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, zumal es auf lange Sicht womöglich unvermeidbar ist, dass wir entdeckt werden.
Aber dann höre ich wie die Pferde sich von uns entfernen, was mir die Entscheidung abnimmt. Ich will mich aufrichten, als es mit einem Mal still wird. Irritiert hebe ich den Kopf, nur ein wenig, um in die Richtung der Soldaten zu sehen. Und dann spüre ich die leichte Berührung Ihrer Heiligkeit, und ich rolle mich hastig zur Seite. »Bitte verzeiht mir, Eure Heiligkeit«, sage ich leise, während ich auf Abstand gehe. Dabei werfe ich den Soldaten einen Blick zu, die sich bereits ein gutes Stück von uns entfernt haben, sodass es unwahrscheinlich ist, dass sie uns noch entdecken. Trotzdem sollte ich sie noch hören können.
Es ist eigenartig sie sehen, aber nicht hören zu können, aber ich nehme an, dass sie einen verzauberten Gegenstand bei sich tragen, der dafür verantwortlich ist. Das bedeutet auch, dass ich sie zuvor nicht gehört habe, lag nicht nur an meiner Unachtsamkeit.
Ich richte meinen Blick auf die Heilige, die ebenfalls den Soldaten hinterher sieht. Aber mir entgeht nicht, dass sie sich von mir weggedreht hat und das ihre Schultern beben.
»Sie sind weg«, sagt sie dann und ihre Stimme klingt uncharakteristisch schwach. Sie dreht sich zu mir und ich sehe, dass sie noch immer blass ist. Und es liegt eine Wachsamkeit in ihrem Blick, als würde sie jede kleinste meiner Bewegungen im Auge behalten, um sicherzugehen, dass ich ihr nicht zu nahe komme. Sie erinnert mich an eins der Eichhörnchen, die im Garten auf unserem Anwesen in Libera wohnen, in dem Moment, in dem sie mich entdecken und überlegen, ob sie fliehen sollen oder nicht.
Ich senke den Kopf, während ich mich frage, ob ich sie tatsächlich so erschreckt habe. »Ich danke Euch. Ohne Euch hätten mich die Soldaten entdeckt. Ich hätte aufmerksamer sein sollen. Meinetwegen musstet Ihr in Eurem Zustand durch den Wald rennen. Verzeiht mir.« Jetzt, wo ich darüber nachdenke, muss sie sich wieder überanstrengt haben, um hierherzukommen. Da sie weder hustet noch keucht, muss sie erneut Buffs auf sich gewirkt haben.
»Sie hatten Verdecker und einen Schallblocker dabei. Ihr hättet sehr aufmerksam sein müssen, um sie zu bemerken, bevor sie Euch bemerken«, sagt Ihre Heiligkeit, als wolle sie mein Verhalten entschuldigen.
Ich sehe weiter meine nun mit Erde befleckten Knie an. Schallblocker. Ich weiß, was das ist, aber mir ist gar nicht in den Sinn gekommen, dass ein Suchtrupp Sottons so etwas verwenden könnte. Noch dazu habe ich mich von unserer Gruppe entfernt, weil ich aufgebracht war und nicht auf meine Umgebung geachtet, als gäbe es nichts, worum ich mir Sorgen machen müsste. Ich bin so ein Idiot!
»Aber ich hätte sie bemerken können.« Ich balle meine Fäuste. Ihre Heiligkeit hat die Soldaten bemerkt und war nicht einmal hier. Ich muss wie ein Obertrottel ausgesehen haben, während ich Dreck in der Luft herumschweben ließ, ohne zu bemerken, dass ein Trupp Soldaten auf mich zuprescht.
»Ihr solltet zu den anderen zurückgehen. Ihre Hoheit war besorgt um Euch.«
Ich sehe die Heilige an, denn es klingt, als wolle sie, dass ich allein gehe. »Was ist mit Euch?«, frage ich, während ich sie in Augenschein nehme. Sie ist nicht mehr so blass und ihre Miene wirkt entspannt und ihr Blick ruhig. Sie verbirgt es vermutlich und ich verstehe, dass sie allein sein will. Aber nachdem sie vorhin Blut hustend zusammengebrochen ist, will ich sie nicht allein lassen.
»Um mich schien sie sich keine Sorgen zu machen und ich sehe keinen Grund, weshalb sie das sollte«, antwortet Ihre Heiligkeit trocken, während sie mich ansieht, als würde ich eine dumme Frage stellen.
Ich muss lachen. »Da wäre ich mir nicht so sicher. Aber ich meinte, ob Ihr nicht mit mir zurückgehen werdet«, spezifiziere ich, obwohl ich weiß, dass sie mich auch beim ersten Mal verstanden hat.
»Ich komme nach«, beharrt Ihre Heiligkeit stur. Dann huscht ihr Blick etwas nach oben und sie schnippt mit den Fingern.
Mir ist aufgefallen, dass sie das oft tut, wenn sie einen Zauber wirkt, und ich runzle die Stirn, während ich mich frage, was sie getan hat. Aber als ich an mir hinuntersehe, stelle ich fest, dass die Erdflecken von meiner Kleidung verschwunden sind. »Oh, danke«, sage ich etwas verdutzt, da ich nicht erwartet habe, dass es die Heilige scheren würde, ob ich dreckig bin.
Aber sie zuckt nur mit den Schultern und sieht mich abwartend an.
»Wenn es Euch nichts ausmacht, bleibe ich ebenfalls noch einen Moment.«
»Weswegen?«, kommt die prompte Antwort Ihrer Heiligkeit.
Ich weiche ihrem scharfen Blick aus, während ich über meine Erwiderung nachdenke. »Um den Schock zu verdauen. Das Ganze kam doch sehr plötzlich …«
»Ihr seid ein grauenhafter Lügner.«
Sie hat eine sehr direkte Art, denke ich, während ich mir unbeholfen den Nacken reibe. Und sie hat recht, ich war noch nie gut im Lügen. »Verzeiht mir. Die Wahrheit ist, dass ich Euch nicht allein lassen will.«
Die Heilige macht ein unzufriedenes Gesicht und ich füge schnell hinzu: »Außerdem kann ich die Präsenzen der anderen nicht mehr spüren und ich will nicht riskieren, mich zu verlaufen.« Das ist tatsächlich etwas, das mich verwirrt. Ich weiß nicht, wann es passiert ist, weil ich auf die Soldaten konzentriert war, aber ich kann nicht eine Präsenz spüren. Und das, obwohl ich mit Ausnahme Ihrer Heiligkeit und Annie jeden aus unserer Gruppe spüren können müsste.
»Richtig«, murmelt die Heilige und einen Augenblick später sind die Präsenzen wieder da. Alle, wie ich erleichtert feststelle und sie sind zusammen, südlich von uns, sodass die Soldaten nicht in ihre Nähe kommen werden, gemessen an der Richtung, die sie eingeschlagen haben.
»Ich hatte mich gefragt, weshalb ihre Präsenzen plötzlich verschwunden sind. Aber ich dachte mir, dass Ihr das wart.« Ihre Heiligkeit hat unsere Präsenzen seit unserer Ankunft hier verborgen und da die Kugel aus dem Schießeisen nicht auf ihre Barriere getroffen ist, muss sie sie entfernt haben.
»Ich musste die Barriere verkleinern, um zu verhindern, dass die Kugel von ihr abprallt«, sagt sie, wie um meine Vermutung zu bestätigen.
Gleichzeitig wird mir bei ihren Worten etwas klar. Wenn sie die Barriere wegen der Kugel verkleinert hat, muss sie es in dem Moment getan haben, als sie das Schießeisen in der Hand des Soldaten gesehen hat. »Es sollte mich nicht mehr überraschen, aber Eure Fähigkeiten sind wirklich beeindruckend. Ich weiß nicht, ob ich die Geistesgegenwart besessen hätte, meinen Schutz zu entfernen, während jemand mit einem Schießeisen auf mich zielt.« Es ist auf mehreren Ebenen beeindruckend, denn nicht nur hat sie in kurzer Zeit einen Zauber gewirkt, dessen Wirkungsbereich nicht mit ihrem eigenen Standort überlappt, sie ist in einer Situation, die ungewohnt für sie sein sollte, ruhig geblieben und hat sogar eine Lösung gefunden. Nicht zum ersten Mal geht mir durch den Kopf, dass Ihre Heiligkeit trotz ihrer Krankheit besser mit den Umständen umgehen kann als wir anderen. Fast so, als wäre sie daran gewöhnt.
»Wo wir davon sprechen, woher wusstet Ihr, dass die Soldaten hier sind?«, frage ich, denn es scheint, dass sie hergerannt ist, mit dem Ziel, mich vor ihnen zu warnen.
Aber die Antwort Ihrer Heiligkeit ist nicht eindeutiger, als die letzten Male, als sie aus unerfindlichen Gründen Informationen über diesen Ort hatte. »Könnt Ihr Euch das nicht denken?«, fragt sie und ich meine einen spöttischen Unterton aus ihren Worten zu hören.
»Ich nehme an, auf dieselbe Art, wie Ihr herausgefunden habt, wo wir sind und wo sich das nächste Dorf befindet. Aber Ihr habt mir nie eine klare Antwort darauf gegeben.«
Sie dreht sich in meine Richtung, wobei sie sich aufrecht hinsetzt. »Ihr seid nicht sehr religiös, oder?«
Ich zögere, da es nicht meine Absicht war, ihre Stellung infrage zu stellen. Ich weiß, dass die Heilige Voraussagen machen kann, aber ich habe mir diese Fähigkeit etwas grandioser vorgestellt. Bisher bezogen sich ihre Prophezeiungen auf Stürme, Unwetter und Naturkatastrophen. »Ich wollte nicht andeuten, dass ich Euch nicht vertraue«, sage ich ausweichend.
»Wieso nicht?« Ihre Heiligkeit mustert mich mit klaren Augen, ohne einen Hauch von Unmut oder Verärgerung.
»Verzeihung?« Ich sehe sie verdutzt an, unsicher, ob ich sie richtig verstanden habe.
»Wieso solltet Ihr verheimlichen, dass Ihr mir nicht vertraut, wenn es so ist?« Sie sieht mich weiterhin an, als wäre es ihr einerlei, sollte ich sie anzweifeln.
Testet sie mich? Denn in Wahrheit gibt es einige Punkte in Bezug auf Ihre Heiligkeit, die mich verwirren, angefangen mit den Briefen, die sie nicht erhalten oder nicht verschickt hat. Aber auch in dieser Situation, die so informell wirkt, darf ich nicht vergessen, wer sie ist. Ich kann nicht offen zugeben, dass ich an der Heiligen, Gottes Erwählten, zweifle, und in ihrem Ansehen womöglich noch weiter sinken.
»Das ist …«, beginne ich, nur um noch einmal anzusetzen. Ich sollte nichts Unüberlegtes sagen. »Es ist weniger, dass ich Euch nicht vertraue und mehr, dass ich Euch nicht kenne.«
»Wo ist der Unterschied?« Anders als meine Antwort kommt ihre ohne zu zögern und sie legt mit einem fragenden Ausdruck den Kopf schief.
Ich räuspere mich und ermahne mich, einen kühlen Kopf zu bewahren. »Der Unterschied ist, dass ich noch nicht entschieden habe, ob ich Euch vertrauen kann«, erkläre ich, bemüht um eine ruhige Stimme. Und es ist keine Lüge.
»Aber das bedeutet doch, dass Ihr mir jetzt gerade nicht vertraut.«
»So würde ich das nicht sagen …« Ihre Direktheit macht es schwierig, das Thema zu wechseln und ich denke nicht, dass sie sich durch Komplimente oder Bekundungen meiner Frömmigkeit ablenken lassen würde. Aber gerade als ich in Erwägung ziehe, ihr zu gestehen, wie überwältigt ich von ihren Fähigkeiten bin, beginnt die Heilige zu kichern.
»Eure Heiligkeit?« Ich sehe sie ungläubig an, während sie lacht, als wäre unsere Unterhaltung nicht weiter wichtig.
»Dachtet Ihr, es würde mich beleidigen, dass Ihr mir nicht vertraut? Oder wieso seht Ihr mich an, als könnte ich Euch jeden Moment den Kopf abreißen?« Sie fährt sich mit der Hand durchs Haar, während sie ungezwungen lacht, sodass ich ihre schneeweißen Zähne sehen kann, und mit einem frechen Blitzen in den Augen, als würde sie mich auslachen. Wahrscheinlich tut sie das sogar, aber dieser Gedanke stört mich nicht. Vielleicht weil dieses Lachen, verglichen mit ihrem puppenhaften Lächeln, wunderschön ist oder weil es so echt auf mich wirkt, denn es bestätigt etwas, das ich schon weiß.
Ich atme aus. »Weil ich weiß, dass Eure Heiligkeit mir gegenüber Abneigung empfinden.«
Sie hört auf zu lachen. Ihre Augen weiten sich und ihre Lippen formen ein überraschtes O. Aber der Ausdruck verblasst viel schneller als ich gedacht hätte. »Es ist Euch also aufgefallen«, sagt sie wieder mit einem Lächeln, doch diesmal verbirgt sie den Hohn darin kaum. Es ist beinah, als wolle sie mich fragen, ob ich wirklich dachte, dass meine Bemerkung sie aus der Ruhe bringen würde.
»Ich war mir nicht sicher. Aber ich bin gut darin zu erkennen, wie ehrlich jemandes Absichten sind.«
»Wollt Ihr sagen, meine Absichten sind nicht ehrlich?«, fragt sie, als würde sie etwas an meinen Worten amüsieren.
»Ich denke, Eure Absichten nach Hause zu kommen sind ehrlich«, antworte ich bedächtig. Aber da sie nicht zögert, mir unverblümt und ehrlich zu antworten, sollte ich das vielleicht auch. »Nicht aber Eure Freundlichkeit uns gegenüber. Zumindest was Jake, Prinz Eden und mich angeht.«
Ihre Heiligkeit mustert mich mit gerunzelter Stirn, als müsste sie darüber nachdenken, ob ich recht habe. Aber auch diesmal scheint sie nicht verärgert zu sein.
»Trotzdem seid Ihr hergekommen, um mich vor den Soldaten zu retten«, sage ich, um ihr zu zeigen, dass sie mich ebenfalls nicht verärgert hat. »Ich kenne Eure Gründe für Eure Abneigung mir gegenüber nicht, aber da Ihr bereit seid darüber hinwegzusehen, schulde ich Euch meinen Dank.«
Der Blick Ihrer Heiligkeit verhärtet sich, als ob mein Versuch, freundlich zu sein, sie verärgern würde, im Gegensatz zu meiner Aussage zuvor. Aber gerade als ich mich frage, ob sie mich so sehr verabscheut, gibt sie ein leises Lachen von sich. »Ist Euch nicht in den Sinn gekommen, dass mein Aufenthaltsort genauso entdeckt worden wäre wie Eurer, wenn man Euch erwischt hätte?«, fragt sie, während sie sich beiläufig in einen Schneidersitz setzt, mit dem Ellbogen auf dem Knie und dem Kinn auf der Hand aufgestützt.
Es ist mir gleichgültig, wie sie sitzt, aber aus irgendeinem Grund erinnert sie mich an einen Straßenschläger, der darauf wartet, dass jemand Blickkontakt mit ihm aufnimmt, von dem er Geld erpressen kann.
Aber ich schüttle den Gedanken schnell ab. Wie kann ich so jemanden mit Ihrer Heiligkeit vergleichen? »Eure Absichten ändern nichts daran, dass Ihr mich vor einer unangenehmen Situation bewahrt habt.«
»Meine Absichten ändern nichts?«, wiederholt sie und ihr Blick bohrt sich in meinen, als ob sie in meinen Kopf schauen wollte.
Erneut habe ich keine Ahnung, was sie an meinen Worten stört, und ich beiße die Zähne zusammen, während ich mich bemühe, unter ihrem Blick gelassen zu bleiben.
»Ihr seht Eurem Vater nicht sehr ähnlich.«
Ich sehe sie überrascht an. Mein Vater? »Kennt Ihr meinen Vater?«, frage ich, obwohl ich mir sicher bin, dass ich es wüsste, wenn es so wäre.
»Wir wurden einander nie offiziell vorgestellt, aber ich weiß, wie er aussieht«, antwortet sie etwas ungeduldig.
Ich verstehe es zwar immer noch nicht, aber sie hat nicht unrecht. Ich berühre meine Haare, die viel heller als die meines Vaters sind. »Man hat mir immer gesagt, ich komme nach meiner Mutter.« Es ist ein Satz, den ich schon so oft gehört habe, und ehrlicherweise kann ich mit Bemerkungen zu meinem Aussehen wenig anfangen. Aber sie haben in den letzten Jahren zugenommen, insbesondere nachdem meine Verlobung mit Stella bekannt gemacht wurde, und mittlerweile bin ich fast genervt davon. »Wieso ist das wichtig?«, frage ich Ihre Heiligkeit, denn ich bin mir sicher, dass sie mir kein Kompliment machen will.
»Ihr seid der Erbe Eures Vaters, richtig? In adligen Familien erbt in der Regel der älteste Sohn.«
»Ja, das ist richtig, aber ich verstehe nicht, worauf Ihr hinauswollt.« Es sei denn, sie würde andeuten wollen, dass ich nicht der Sohn meines Vaters bin, was lächerlich wäre.
»Vorausgesetzt er ist Aura-Träger natürlich.« Ihre Heiligkeit mustert mich scharf und mit diesem Satz begreife ich, dass es nicht um mich geht.
Die Person, von der sie spricht, die nicht so aussieht wie ich, sondern wie mein Vater, den sie nicht kennt. Jemand, der kein Erbe sein konnte, weil er kein Aura-Träger ist. »Ihr sprecht von meinem Onkel«, stelle ich fest und lasse meine Hand sinken. »Ich wusste nicht, dass ihr euch kennt.«
»Tun wir nicht!« Ihre Heiligkeit antwortet zu schnell, etwas, das ihr selbst aufzufallen scheint, denn sie legt die Stirn in Falten und ihre Miene verhärtet sich. »Er hat den Tempel besucht, um sich über sein Unglück zu beschweren, deshalb weiß ich davon.«
Sie lügt. Mein Onkel würde sich nie über sein Unglück beschweren, da er stets meinem Vater die Schuld gegeben hat und nie Glück. Die Beschwerde, von der sie spricht, war bestimmt nicht so harmlos, wie sie es klingen lässt.
»Ich verstehe.« Ich denke, sie hat ihre Worte absichtlich zurückhaltend formuliert, um herauszufinden, wie ich zu meinem Onkel stehe. »Von außen betrachtet mag es ungerecht erscheinen, aber mein Vater wurde nicht zum Erben ernannt, weil er Aura-Träger ist.« Ich halte inne, denn das stimmt nicht ganz. »Jedenfalls nicht in erster Linie. Im Grunde hat die Tatsache, dass mein Onkel der Ältere und mein Vater Aura-Träger ist, beiden die gleichen Chancen gegeben. Ich weiß nicht, wie gut Ihr meinen Onkel kennt, aber er ist kein geeignetes Oberhaupt oder auch nur ein guter Mensch. Es mag daran liegen, dass er und mein Vater nicht die besten Freunde sind und meine Meinung von ihm dadurch beeinträchtigt wurde. Aber er ist ein Mann, der keine Verantwortung übernehmen kann und Schuld auf diejenigen abwälzt, die in keiner Position sind, sich gegen ihn zu wehren, anstatt an seinen Schwächen zu arbeiten. Zum Beispiel hat er nie versucht, sein Mana -«
»Es ist nicht nötig, weiter ins Detail zu gehen!« Ihre Heiligkeit unterbricht mich mit schriller Stimme und mir wird klar, dass ich mehr auf sie hätte achten sollen.
Wut glüht in ihren Augen, doch eigenartigerweise scheint ihr Blick nicht auf mich gerichtet zu sein. Und bevor ich ein Wort sagen kann, ist Ihre Heiligkeit auf den Beinen und geht an mir vorbei.
Sie ist nicht sehr schnell, aber ich habe das Gefühl, dass sie nicht mit mir sprechen will, daher warte ich und folge ihr dann in einem Abstand. Einen Abstand, den ich klein genug halte, um sie im Notfall aufzufangen, denn ihr Gang ist recht wackelig.
Ich frage mich, ob es daran liegt, dass sie sich überanstrengt hat, als sie vorhin durch den Wald gerannt ist, oder dass sie keine Buffs mehr auf sich wirkt. Aber ich werde das Gefühl nicht los, dass sie sich unnötig beeilt, um zu verhindern, dass ich sie einhole.
Damals am Fluss, als mir zum ersten Mal diese Kälte in ihrem Blick aufgefallen ist, konnte ich mir nicht erklären, welche Abneigung jemand, den ich so gut wie gar nicht kenne, gegen mich hegen kann. Aber jetzt kann ich mir etwas zusammenreimen.
Wenn sie meinen Onkel getroffen hat, ist es durchaus möglich, dass sie einen schlechten Eindruck von meiner Familie bekommen hat. Dass sie ihn überhaupt erwähnt, bedeutet wahrscheinlich, dass er sie beleidigt oder so sehr verärgert hat, dass sie einen Groll gegen ihn hegt.
Aber das allein wäre zu oberflächlich, um diesen Blick zu rechtfertigen, in dem so viel Abscheu liegt. Und ich bin nicht der einzige, den sie verabscheut. Eden, Jake und ich denke, sie verabscheut auch Dalton, nur dass das nicht auffällt, weil er sich kaum traut, sich ihr zu nähern.
Ich balle die Hände zu Fäusten, als ich an ihr Gesicht denke, während ich sie auf den Boden gedrückt habe. Eine Frau, die keine Angst vor einem Soldaten hat, der eine Waffe auf sie richtet, aber in Panik verfällt, wenn ein Mann ihr zu nahe kommt.
Ich erinnere mich daran, wie sie an unserem ersten Abend vor Eden geflohen ist und an ihre vehemente Ablehnung, als ich angeboten habe, sie zu tragen. Dazu kommt ihre Gewohnheit, sich ihren Schleier übers Gesicht zu ziehen und jedes bisschen Haut zu verstecken, als würde sie sich so wohler fühlen. Es ergibt alles einen Sinn.
Aber das ist kein Verhalten, das aus Scheue vor Männern resultiert, zu denen sie keinen Kontakt haben darf. Ansonsten hätte sie sich kaum getraut, mich auszulachen und zuzugeben, dass sie mich nicht leiden kann.
Ich starre den Rücken der Heiligen an. Ich muss mich irren. Niemand würde es wagen, Hand an die Heilige zu legen. Sie wird so gut beschützt wie eine Königliche. Selbst Eden wurde dafür bestraft, Ihrer Heiligkeit zu nahe gekommen zu sein.
Ich fahre mir mit der Hand über den Mund, als ich merke, wie haltlos diese Begründungen sind. Eden benimmt sich nicht wie jemand, der dafür bestraft wurde, die Heilige unangebracht berührt zu haben. Er wäre nicht so unbedacht und sorglos in ihrer Nähe. Natürlich könnte es daran liegen, dass er hier keine weitere Strafe fürchtet, aber auf mich wirkt es, als würde er sein Verhalten nicht einmal als unangebracht bewerten. So als wäre die unangebrachte Berührung, für die er bestraft wurde, weit weniger harmlos als die Zeitungen sie damals beschrieben haben.
Mit einem Mal blendet mich Licht, das mich nicht nur aus meinen Gedanken reißt, sondern auch darauf aufmerksam macht, dass es mittlerweile dunkel ist. Meine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, aber da ich die Präsenzen der anderen ganz in der Nähe spüre, verstehe ich, weshalb Ihre Heiligkeit eine Lichtquelle beschworen hat.
Ich schließe zu ihr auf. »Wir sind es!«, sage ich, um niemandem einen Schrecken einzujagen. »Seid Ihr alle in Ordnung?« Ich trete mit Ihrer Heiligkeit auf die Lichtung, auf der wir unser Lager aufgeschlagen haben und schon im nächsten Moment ist Stella bei mir.
»Mikail!« Sie hat es so eilig, dass sie mich beinah umrennt und ich denke, dass Ihre Heiligkeit recht damit hatte, dass Stella sich Sorgen um mich macht.
»Was ist passiert? Wo wart ihr so lange? Ich habe mir solche Sorgen gemacht.« Stella plappert los, als wäre ihr entgangen, dass sie sich praktisch in meine Arme geworfen hat, und umfasst mein Gesicht, als wolle sie überprüfen, ob es mir auch wirklich gut geht. »Du bist nicht verletzt, oder? Ihre Heiligkeit hat gesagt, es wären Soldaten in der Nähe und ich dachte, -«
»Es ist alles gut, Stella«, sage ich und ziehe sanft ihre Hände von meinem Gesicht. Aber ihre Sorge um mich hebt meine Stimmung etwas. »Es sind tatsächlich Soldaten hier, aber dank Ihrer Heiligkeit haben sie uns nicht entdeckt.« Ich werfe der Heiligen einen Blick zu, die ihrerseits Stella und mich mustert, als würden wir etwas sehr Interessantes tun.
Ich schlucke und frage mich, ob sie sich an unserer Nähe stört. Sie weiß, dass Stella und ich verlobt sind, aber vielleicht wäre es besser, in ihrer Gegenwart vorsichtig zu sein.
»Lorelai!«
Der Ausdruck von Neugier verschwindet und Ihre Heiligkeit zuckt zusammen, bevor sie zu Eden sieht, der mit stampfenden Schritten auf sie zukommt. Sie hebt die Arme vor die Brust, als wolle sie sich schützen, und für einen kurzen Moment zeigt ihr Gesicht unverhohlene Abneigung, bevor sie eine beherrschte Miene aufsetzt.
Ich schiebe Stella von mir und blockiere Edens Weg. Ich stehe bereits vor ihm, noch bevor ich den Entschluss fassen kann, ihn nicht in die Nähe Ihrer Heiligkeit zu lassen. All die Vermutungen, die ich vorhin aufgestellt habe, sind nicht mehr als das, aber ich weiß, dass die Heilige sensibel auf Nähe reagiert und ich sehe, wie sie vor Eden zurückzuckt. Und mehr muss ich nicht wissen.
»Euer Hoheit«, sage ich und entgegen meinem Vorsatz, entschlossen, aber ruhig zu sprechen, klingt meine Stimme frostig. Ich konnte Eden nie leiden, aber ich habe ihm, dem Sohn des Königs und Onkel meiner Verlobten, den nötigen Respekt entgegengebracht. Aber in diesem Moment sehe ich nur einen Mann, der sich einer Frau aufdrängen will, die kaum älter ist als Annie.
»Es gibt etwas, das ich mit Euch besprechen muss«, fahre ich fort. Das hätte ich schon viel früher machen sollen. Ich habe gesehen, wie er Ihre Heiligkeit behandelt hat und wie unangenehm es ihr war, aber ich dachte, es wäre in Ordnung, solange ich ein Auge auf ihn habe.
»Jetzt sofort?«, fragt Eden, der zu begreifen scheint, dass es mir ernst ist.
»Ja, jetzt sofort«, antworte ich und es gelingt mir besser, gelassen zu klingen. Ich will nicht erklären müssen, woher meine plötzliche Einstellung gegenüber Eden kommt. »Wieso gehen wir nicht zum Fluss? Wir können uns bei der Gelegenheit nützlich machen, da wir noch nichts zu Abend gegessen haben.«
»Aber es ist dunkel -«
»Geht voran«, sage ich, als hätte ich anstelle seines Protests eine Zustimmung gehört.
Eden öffnet empört den Mund, aber unter meinem Blick sagt er nichts. Schließlich dreht er sich um und geht in den Wald.
Natürlich geht er nicht bis zum Fluss, sondern stoppt, sobald wir uns etwas von unserm Lager entfernt haben.
»Du wirst reichlich arrogant, Mikail!«, faucht er, während er zu mir herumwirbelt. »Wen glaubst du, dass du vor dir hast?!«
»Ich habe Eure Stellung nicht vergessen, Euer Hoheit«, sage ich und erwidere seinen wütenden Blick unerschrocken. »Aber selbst Euch ist es nicht gestattet, Ihre Heiligkeit respektlos zu behandeln.«
»Respektlos?!« Eden schnaubt und hält mir seinen Finger unter die Nase. »Tu nicht so scheinheilig, ich weiß genau, was du planst! Du bist eifersüchtig, wegen der Nähe zwischen Lorelai und mir! Deshalb versuchst du - !«
Ich packe seine Hand, während ich meinerseits einen Schritt auf ihn zumache. »Die Heilige ist eine Priesterin, die keine Aufmerksamkeit von einem Mann wünscht!«, zische ich, bemüht darum, meinen Griff nicht zu sehr zu festigen. »Und selbst wenn sie kein Teil des Tempels wäre, ist sie eine Frau, die kaum aus dem Mädchenalter raus ist und mehr als zehn Jahre jünger als Ihr! Muss ich Euch wirklich erklären, weshalb Euer Verhalten gegenüber Ihrer Heiligkeit mehr als unangebracht ist?«
Eden reißt an seinem Arm und ich lasse ihn los.
Er weicht vor mir zurück und reibt sich sein Handgelenk. »Du wagst es, mit mir zu reden, als wäre ich ein dahergelaufener Lüstling? Ich bin Eden Rhys Baltazar, zweiter Sohn des Königs. So redest du nicht mit mir!« Selbst in dieser Situation benutzt er seine Stellung als Entschuldigung, anstatt seine Absichten gegenüber Ihrer Heiligkeit zu verteidigen.
Ich beiße mir in die Wange. »Wir wissen beide, dass Ihr es nur diesem Titel zu verdanken habt, dass Ihr überhaupt noch frei herumlauft.«
Eden öffnet den Mund, aber ich spreche weiter. »Die Zeitungen haben es damals verharmlost, aber dachtet Ihr wirklich, das würde bedeuten, Ihr könntet einfach so tun, als wäre es nie passiert.«
Er erstarrt. Und für einen Moment huscht Unsicherheit über sein Gesicht, bevor er eine abfällige Miene aufsetzt. »Wovon redest du überhaupt?« Er versucht, genauso abfällig zu klingen, aber er schafft es kaum mir in die Augen zu sehen.
Ich balle die Fäuste. Es stimmt also. Ich spüre, wie sich meine Aura aufbaut und ich zwinge mich zu einem ruhigen Atemzug. Wenn ich ihn jetzt schlage, könnte ich ihn ernsthaft verletzen.
»Euer Hoheit!« Ich baue mich vor Eden auf und sehe auf den etwas kleineren Mann hinab, der unter meiner Aura, die ich nicht zurückhalten kann, zitternd den Kopf einzieht. »Ihr werdet Euch von Ihrer Heiligkeit fernhalten. Ihr werdet Euch nicht in Ihrer Nähe aufhalten und nicht mit Ihr sprechen, ohne einen guten Grund dafür zu haben. Habt Ihr das verstanden?«
Eden, dessen Aura verzweifelt meine von sich schiebt, starrt mich mit bebendem Blick an. »Drohst du mir?!«
»Ja«, sage ich und lehne mich zurück, wobei ich auch meine Aura zurücknehme. »Vergesst es nicht oder ich vergesse doch noch, wer Ihr seid. Und jetzt kommt. Wir wollen heute noch etwas zu Abend essen.«
Am nächsten Morgen brechen wir früh auf, um so schnell wie möglich Distanz zwischen uns und die Soldaten zu bringen. Wir lassen sogar das Frühstück aus, aber ich erwarte nicht, dass wir sehr weit kommen, bevor Ihrer Heiligkeit die Kraft ausgeht.
Ich gehe neben Annie, die mir versichert, dass sie definitiv auch ohne Frühstück eine Weile laufen kann. Aber ich mache mir Sorgen, dass ich sie vernachlässige, weil ich auf die Heilige konzentriert bin. Der Segen mag sie kräftiger gemacht haben, aber Annie hatte schon immer eine schwächliche Verfassung und sie ist eine solche Anstrengung nicht gewohnt.
Allerdings schlägt sie sich dennoch deutlich besser, als die Heilige, die schon bald am Ende unserer Gruppe geht. Ich behalte sie im Auge, während ich bei Annie bleibe, doch obwohl sich Erschöpfung auf ihrem Gesicht abzeichnet, geht sie auch nach einer Stunde noch mit sicheren Schritten.
»Wir sollten eine Pause machen«, sage ich mit lauter Stimme, bevor ich den Weg zurückgehe, um mich vor Ihre Heiligkeit zu stellen und sie genauer in Augenschein nehmen.
»Wieso seht Ihr mich so an?« Sie sieht zu mir auf, mit einem genervten Glimmer in den Augen.
»Habt Ihr Buffs auf Euch gewirkt, Eure Heiligkeit?«
Sie blinzelt ertappt. »Nur ein wenig. Und diesmal auf keine lebenswichtigen Organe. Es gibt also keinen Grund zur Sorge.« Sie sagt das, aber wenn sie ihre Lungen nicht gebufft hat, wie kommt es, dass sie ruhiger atmet, als bisher nach einer Stunde laufen ohne Buffs.
»Und gestern, als Ihr zu mir gerannt seid, habt Ihr Euch ebenfalls gebufft.« Ich bin mir sicher, dass sie die Stärke des Buffs angepasst hat, aber auch schwache Buffs, die sie in kurzer Abfolge auf sich wirkt, belasten ihren Körper.
»Wie Ihr wisst, hatte ich keine Wahl«, sagt sie und klingt dabei etwas schnippisch. Sie benimmt sich wie Annie, wenn sie sich überanstrengt.
»Jetzt habt Ihr eine. Entfernt den Buff«, erwidere ich mit ruhiger, aber bestimmter Stimme.
Sie funkelt mich wütend an. »Ich dachte, wir waren uns einig, dass wir nicht von den Soldaten entdeckt werden wollen. Wollt Ihr all meine Mühen zunichtemachen?«
»Ich will vor allem verhindern, dass Ihr Euch auf eine Weise verletzt, von der Ihr Euch nicht erholen könnt.«
»Das wird nicht passieren oder habt Ihr vergessen, wer ich bin?« Zuversicht breitet sich auf ihren Zügen aus, als wäre das ein unbestreitbares Argument.
»Selbstverständlich nicht, Eure Heiligkeit«, erwidere ich und frage mich, wie ich mit der kindischen und etwas arroganten Seite der Heiligen umgehen soll. Annie ist nie arrogant. »Wie könnte ich vergessen, dass Ihr die begabteste Heilerin unseres Königreichs seid und dennoch an einer Krankheit leidet, die Ihr offenbar trotz Eurer Fähigkeiten außerstande seid zu heilen.«
Sie lacht höhnisch auf, aber der Blick in ihren Augen ist beinahe warnend. »Ihr sagt das, als ob Ihr gut über meinen Zustand informiert wärt, my Lord.«
Vielleicht lehne ich mich zu weit aus dem Fenster. Sie ist immer noch die Heilige, nicht meine kleine Schwester. »Das bin ich nicht. Aber Ihr geht zu rücksichtslos mit Eurer Gesundheit um.«
»Sodass Ihr Euch gezwungen seht, Verantwortung dafür zu übernehmen?«
Das nun wieder. Es ist, als würde sie jegliche Sorge, die ich ihr gegenüber äußere abblocken. Als wäre es mein Verhalten, das eigenartig ist. »Und Ihr?«
»Ich?«, fragt sie und macht ein überraschtes Gesicht.
»Würdet Ihr Euch ohne uns überhaupt so verausgaben müssen?« Ist es so selbstverständlich für sie, ihre Gesundheit für andere zu opfern, dass sie sich darüber wundert, wenn jemand dieses Verhalten infrage stellt?
»Wie wäre es, wenn Ihr Euch ausruht, Eure Heiligkeit, während wir etwas zu essen besorgen?« Jake tritt neben mich und hebt die Hände, als wolle er mich daran erinnern, dass ich mich schon wieder dazu hinreißen lasse, Ihre Heiligkeit zurechtzuweisen. »Ihr habt seit gestern nichts gegessen, wenn ich mich nicht irre.«
Ich nicke und denke, dass Jakes indirekter Ansatz erfolgversprechender ist als meiner. »Das Laufen wird Euch leichter fallen, wenn Ihr etwas gegessen habt.«
Aber die Heilige sieht plötzlich zum Himmel auf. »Und ich denke, wir sollten erst in zwei Stunden eine längere Pause einlegen. Es wird regnen.«
Ihre Antwort ist so unerwartet, dass ich nicht weiß, wie ich darauf reagieren soll und nur dümmlich zum Himmel aufsehe. Es sind einige Wolken zu sehen, aber ich sehe keine Anzeichen dafür, dass es regnen wird.
»Woher wisst Ihr das?«, fragt auch Jake.
»Ich habe es gesehen, als mir die Soldaten aufgefallen sind«, sagt die Heilige und ich erinnere mich an unser Gespräch gestern und wie sie nicht spezifiziert hat, woher sie wusste, dass die Soldaten an uns vorbeireiten würden. Da es mit ihren Fähigkeiten als Heilige zu tun hat, sollte ich es nicht weiter infrage stellen.
»Wie könnt Ihr das gestern gesehen haben?«, fragt Jake, dem dieser Gedanke offenbar nicht gekommen ist und er wird sofort von Hilena zurückgepfiffen.
Die Heilige jedoch scheint sich nicht an Jakes Zweifeln zu stören und geht entschlossenen Schrittes weiter.
»Und was jetzt?« Estella berührt meinen Arm und ihr Blick zuckt zu Ihrer Heiligkeit, bevor sie mich ansieht. »Sie ist überraschend stur«, fügt sie mit einem bitteren Lächeln hinzu. »Sie könnte wenigstens versuchen, einen Kompromiss einzugehen.«
Ich seufze. Sie hat recht, aber am Ende ist es Ihre Heiligkeit, die am besten über ihren Zustand urteilen kann. So gesehen sollte wohl eher ich es sein, der einen Kompromiss eingeht. Mein Blick fällt auf einen Ast, der von einem Baum gerissen wurde. »Würdest du ein Auge auf Annie haben?«, frage ich Stella, den Blick auf den Ast gerichtet, während ich abschätze, ob er als Gehhilfe für die Heilige taugt.
»Oh, sicher.«
»Danke!« Ich sehe Stella dankbar an, bevor ich auf den Ast zugehe. Ich hebe ihn vom Boden und zupfe die kleineren Zweige ab, während ich zur Heiligen aufschließe. »Eure Heiligkeit.«
»Was auch immer Ihr sagen wollt, ich werde mich nicht ausruhen!«, sagt sie, ohne mich überhaupt anzusehen.
Sie ist stur, denke ich. »Hier.«
Ihre Heiligkeit hält inne und macht dann ein verwirrtes Gesicht, als ich ihr den Stock hinhalte.
»Benutzt das als Stütze«, sagt er und als mein Blick auf die tote Rinde fällt, die keinen besonders angenehmen Griff bietet, packe ich den oberen Teil des Stockes und reibe ihn ab. »Und entfernt dafür die Buffs.«
»Ihr seid sehr dickköpfig, my Lord«, sagt sie, aber sie nimmt den Stock.
»Verzeiht mir«, sage ich und neige den Kopf entschuldigend in ihre Richtung. Die Tatsache, dass sie dasselbe von mir zu denken scheint wie ich von ihr amüsiert mich. Vielleicht sollte ich meine Beweggründe besser erklären. »Aber mir ist nicht wohl dabei, dass Ihr aufgrund der Situation gezwungen seid, Eure Gesundheit zu riskieren. Es ist nicht fair.«
»Wann ist die Welt schon fair?«, murmelt sie und ihre Stimme klingt bitter.
Ich mustere ihr Profil. »Ihr habt recht. Aber sollten wir nicht gerade deshalb Wert darauf legen, fair zueinander zu sein?«
Sie wirft mir einen Blick zu. Dann schüttelt sie mit einem Lachen den Kopf. »Ihr seid nicht oft in einer Situation, die unfair für Euch ist, oder?«
»Wahrscheinlich nicht«, gebe ich zu. »Aber ist das nicht ein Grund mehr, rücksichtsvoll zu sein?«
Die Heilige antwortet nicht sofort, während sie damit beschäftigt zu sein scheint, sich an ihren Stock zu gewöhnen. Auch mit ihm ist sie nicht schneller und ich beobachte, wie Eden uns überholt.
Er lässt es sich nicht nehmen, mir einen zornigen Blick zuzuwerfen, aber ich ignoriere ihn und sehe zu Annie, die bei Stella und Dalton geht.
»Ihr scheint ein guter Mensch zu sein«, sagt Ihre Heiligkeit dann und ich richte meine Aufmerksamkeit wieder auf sie. »So wie Ihr es sagt, klingt es nicht nach einem Kompliment.«
Sie lässt ein leises Schnauben hören und ich bin mir nicht sicher, ob es ein Laut der Anstrengung oder Abfälligkeit ist.
»Wie könnte die Heilige jemanden für seine Bemühungen, rücksichtsvoll zu sein, kritisieren?« Sarkasmus schwingt in ihrer Stimme mit und ich denke, ihr Schnauben hatte nichts mit Anstrengung zu tun.
»Auf dieselbe Weise, mit der sie mir gestern ins Gesicht gesagt hat, dass sie mich nicht leiden kann«, erwidere ich mutig. Aber ich bin neugierig, ob sie wieder umstandslos zugeben wird, dass sie mich nicht mag.
»Das war inoffiziell. Ich werde Euch noch weniger leiden können, wenn Ihr herumrennt und Klatsch darüber verbreitet.« Die Heilige zuckt nicht einmal, während sie mir halbherzig droht, damit ich ihre Abneigung mir gegenüber geheim halte.
Ihre Wortwahl amüsiert mich und ich muss lachen, während ich mich frage, ob sie auch anderen gegenüber so direkt ist. »Verzeiht mir«, sage ich, als ich ihren Blick auf mir spüre, aber ich muss immer noch lachen. Ich wusste nicht, dass es so unbeschwert sein kann, von jemandem nicht gemocht zu werden. »Ich bin nur erleichtert, dass Ihr eine so menschliche Seite habt.«
Erst als ich den Blick ihrer Heiligkeit sehe, begreife ich, was ich gerade gesagt habe. »Verzeiht mir, was ich sagen wollte, ist, dass ich Eure Ehrlichkeit erfrischend finde«, sage ich, während ich verspätet meine Hand über meinen Mund lege.
Ich war zu unvorsichtig. Es war nicht meine Absicht, so direkt zu sein. Ich war nicht nur direkt, ich war respektlos.
Aber die Heilige schüttelt nur den Kopf, als wäre es ihr einerlei, was ich von ihr denke. Und während ich darüber nachdenke, ob das tatsächlich der Fall ist, stolpert sie.
Ich greife reflexartig ihren Arm, um sie zu stützen. Im selben Moment blitzt ihr panisches Gesicht vor meinem inneren Auge auf und ich bereue es, nicht meine Aura benutzt zu haben.
Sobald sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hat, lasse ich sie los. »Verzeihung. Habt Ihr Euch verletzt?«
»Nein.« Sie mustert mich etwas eigenartig. »Und es ist nicht nötig, sich alle halbe Minute bei mir zu entschuldigen.«
Ich sehe sie überrascht an. »Verzeihung?«
Sie runzelt die Stirn, mit einem befremdlichen Blick-
»Oh«, mache ich, als ich bemerke, was ich gerade gesagt habe. »Verzeihung, ich wollte nicht … ähm …« Ich beiße mir auf die Zunge. Mir war nicht bewusst, dass ich eine Gewohnheit habe, mich zu entschuldigen. Ich muss auf Ihre Heiligkeit wie ein Trottel wirken!
Ich habe gehofft, die Gehhilfe würde eine Erleichterung für die Heilige sein, aber von Anfang an war das Problem mehr, dass Ihre Heiligkeit sich überanstrengt. Und so hilft ihr der Stock eher dabei, noch mehr von sich abzuverlangen.
»Bitte, Eure Heiligkeit, wir sollten -«
»Nein!«
Ich unterdrücke ein Stöhnen, als sie mich unterbricht, noch bevor ich meinen Vorschlag zu einer Pause vorbringen kann.
Wir gehen mittlerweile so weit hinter den anderen her, dass wir sie bald aus den Augen verlieren werden, und Ihre Heiligkeit klammert sich an ihren Stock, als würde sie ohne ihn zusammenbrechen. Daher traue ich mich kaum, sie aus den Augen zu lassen. Aber ich beharre nicht weiter auf einer Pause, denn der verbissene Ausdruck auf ihrem Gesicht sagt mir, dass sich ihre Wut und Frustration vor allem gegen sie selbst richtet.
Ihre Worte darüber, dass ich nicht oft in einer Situation bin, die unfair für mich ist, haben mir zu denken gegeben. Schon allein die Vorstellung, einen Körper zu haben, für den selbst einfaches Gehen eine enorme Anstrengung ist, erfüllt mich mit solcher Frustration, dass ich der Heiligen ihr Verhalten nicht übel nehmen kann.
Und so warte ich geduldig, als sie stehen bleibt und sage nichts. Bis ich merke, dass sie mich mit einem sehr durchdringenden Blick anfunkelt, als hätte ich etwas Unverzeihliches getan.
»Stimmt etwas nicht?«, frage ich so friedvoll wie möglich.
Ihr Ausdruck erweicht etwas und sie schüttelt den Kopf. Dann lässt sie ihren Stock los. »Ich erlaube es«, sagt sie mit so leiser Stimme, dass ich sie fast nicht verstehe.
Ich sehe verwirrt von dem Stock am Boden zurück zu ihr.
Sie sieht mich erwartungsvoll an, was es unwahrscheinlich macht, dass sie von einer Pause spricht.
»Verzeihung? Was erlaubt Ihr?«, frage ich also.
Ihr Blick verdüstert sich. »Dass Ihr mich tragt!« Sie sagt es zwischen zusammengepressten Zähnen und dreht den Kopf weg, mit einem angewiderten Ausdruck auf ihrem Gesicht.
Ich starre sie an. Selbst wenn ich nicht erfahren hätte, wie sehr Ihre Heiligkeit körperliche Nähe verabscheut, in diesem Moment zeigt sie mir auf jede mögliche Weise, dass sie mich nicht an sich heranlassen will. »Nein«, sage ich daher, ohne überhaupt darüber nachgedacht zu haben.
Die Heilige sieht mich an, mit Verblüffung in ihrem Blick. »Was?«
»Wie oft muss ich noch sagen, dass wir so viele Pausen machen können, wie Ihr braucht? Es gibt keinen Grund, Euch zu etwas zu zwingen, das Ihr nicht wollt.«
»Ich …«, stammelt sie und starrt mich an, als würde sie nicht verstehen, was ich sage. »Ich habe Euch doch gerade meine Erlaubnis gegeben.«
»Weil Ihr glaubt, dass Ihr keine andere Wahl habt«, antworte ich und der Gedanke, dass sie tatsächlich nicht versteht, weshalb ich ihren Vorschlag ablehne, erfüllt mich mit demselben erdrückenden Gefühl wie gestern. Was für ein Leben muss sie leben, wenn der Gedanke, dass jemand ihre Bedürfnisse priorisiert, sie so verwirrt?
»Meint Ihr die Wahl von den Soldaten entdeckt zu werden oder nicht?« Sie mustert mich misstrauisch, als würde sie eher in Erwägung ziehen, dass ich unsere Reise absichtlich verhindern will.
»Die Soldaten waren auf Pferden unterwegs. Auch wenn wir etwas schneller vorankommen, könnten sie uns trotzdem einholen. Und selbst wenn nicht, heißt das nicht, dass wir nicht entdeckt werden«, erkläre ich und denke, dass es möglicherweise tatsächlich die klügere Entscheidung wäre, die Soldaten um Hilfe zu bitten. »Aber vor allem gibt es keinen Grund, dass Ihr Verantwortung in dieser Situation übernehmt, schon gar nicht auf Kosten Eurer Gesundheit und Eures Wohlbefindens.«
Die Heilige starrt mich an, aber es scheint, dass sie sich meine Worte durch den Kopf gehen lässt. Dann schüttelt sie den Kopf. »Wart Ihr vorhin nicht noch dagegen, dass wir uns den Soldaten zeigen? Und jetzt ermutigt Ihr mich dazu?«
Natürlich sollte ich dagegen sein, Sotton um Hilfe zu bitten. Die Beziehung zwischen unseren Königreichen ist nicht freundschaftlich genug, um eine Hilfe ohne Gegenleistung zu erwarten. Im schlimmsten Fall enden wir als Geiseln. Aber das ist die Position eines Politikers und Patrioten. Aber ich bin nicht so patriotisch, dass ich mein Land über alles stelle. Wäre es Annie und sie würde versuchen, ihre Gesundheit für Ishitar zu opfern, ich würde wohl eine Rebellion starten. Bei dem Gedanken kommt mir ein bitteres Lachen über die Lippen. »Nun, ich denke, Sotton würde sich bemühen, die Heilige gut zu behandeln. Ihr hättet es bequemer als hier im Wald.«
»Und ich wäre aller Wahrscheinlichkeit nach eine Geisel«, sagt Ihre Heiligkeit und bestätigt mir, dass sie die Situation von einem rein politischen Standpunkt betrachtet.
»Aber eine, für die der König und der Tempel einiges aufgeben würde, und Sotton würde nicht wagen, Euch ein Haar zu krümmen.« Ich bin mir selbst nicht ganz sicher, wieso ich darauf beharre. Aber ich will ihr zeigen, dass es in Ordnung ist, etwas mehr an sich selbst zu denken. »Es ist nicht Eure Aufgabe, sich darum zu Sorgen, welchen Preis Ishitar für Eure Rückkehr bezahlt.«
Sie mustert mich, aber ich kann nicht erkennen, wie sie meinen recht rebellischen Vorschlag aufnimmt. Sie sieht jedenfalls weder geschockt noch verärgert noch sonderlich überrascht aus. Sie legt lediglich die Stirn in Falten, als würde sie sich meine Worte durch den Kopf gehen lassen.
»Ich denke trotzdem, dass wir vorankommen müssen«, sagt sie dann und macht einen Schritt auf mich zu, als hätte sie eine Entscheidung getroffen.
Sie ist wirklich stur. »Das werden wir auch so.«
»Gibt es möglicherweise einen anderen Grund, aus dem Ihr meinen Vorschlag ablehnt?« Ihre Augen schmälern sich.
»Ich lehne ab, weil ich weiß, dass Ihr nur Euer Einverständnis gegeben habt, weil Ihr glaubt, Ihr wärt eine Belastung.«
Sie macht einen weiteren Schritt auf mich zu. »Und woher wisst Ihr das?«
»Wieso sonst solltet Ihr Euch jemandem anvertrauen, gegenüber dem Ihr Abneigung empfindet?« Ich beschließe etwas direkter zu sein und verschränke die Arme vor der Brust.
Ihre Heiligkeit bleibt vor mir stehen. »Weil Ihr das kleinere Übel seid«, sagt sie trotz unserer Nähe mit ruhiger Stimme. »Ihr solltet Euch nicht der falschen Annahme hingeben, dass ich mich opfere, my Lord. Ich weiß sehr wohl, dass mir eine Wahl zur Verfügung steht und ich habe sie getroffen. Wenn Ihr also nur aus Rücksicht auf mich ablehnt, müsst Ihr Euch nicht weiter bemühen.«
Wenn sie es so formuliert, kann ich schlecht widersprechen. Aber die Wahrheit ist, dass mir der Gedanke, eine Frau in den Armen zu halten, in dem Wissen, dass ich ihr dabei Unwohlsein bereite, nicht gefällt. Und wenn ich an das Gesicht Ihrer Heiligkeit gestern denke, ist ‚Unwohlsein‘ noch eine Untertreibung.
Ich sehe zu den anderen, die mittlerweile stehen geblieben sind, sogar Eden, und darauf zu warten scheinen, dass wir zu ihnen aufschließen. Stella kommt sogar den Weg zurück, wohl um zu fragen, weshalb wir nicht weitergehen.
Ich seufze, denn ich will dieses Thema lieber nicht vor der ganzen Gruppe besprechen. »Wenn Ihr Euch sicher seid.« Ich löse meine Arme und trete neben sie, um sie umstandslos vom Boden zu heben. Schnell und schmerzlos.
Ihre Heiligkeit schnappt nach Luft und klammert sich an meinem Kragen fest. Wie ich es erwartet habe, erbleicht sie und Panik macht sich auf ihrem Gesicht breit, als sie begreift, was vor sich geht. Sie hört auf zu atmen und ich hätte sie sofort wieder abgesetzt, wenn ich glauben würde, dass sie in diesem Moment auf eigenen Beinen stehen könnte.
»Wollt Ihr es Euch doch anders überlegen?«, frage ich stattdessen, um ihre Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, und ihr deutlich zu machen, dass sie nur etwas sagen muss, damit ich sie absetze.
Aber als sie ihren Blick auf mich richtet, verhärtet sich ihre Miene. Und dann lässt sie meinen Kragen los und lächelt. Es ist ein falsches Lächeln, aber sie erscheint ruhiger. »Nein«, sagt sie und auch ihre Stimme klingt gefasster, als ich erwartet hätte.
Ich runzle die Stirn und mustere sie. »Seid Ihr sicher? Ihr seht blass aus.«
»Ihr habt mich erschreckt«, antwortet sie, als würde sie glauben, diese Erklärung könnte mich überzeugen.
»Es war Eure Idee, dass ich Euch trage«, sage ich, um sie darauf hinzuweisen, dass sie keinen Grund hatte, sich zu erschrecken.
»Und Ihr habt Euch geweigert«, rechtfertigt sie sich. »Außerdem habe ich nicht erwartet, dass Ihr mich so tragen wollt.« Sie sieht auf ihre Beine hinab.
Ich folge ihrem Blick. »Wie sollte ich Euch sonst tragen?«, frage ich dann, obwohl ich nicht abstreite, dass es etwas unpraktisch ist. Ich werde mich auf meine Aura verlassen müssen, um sie für längere Zeit auf diese Weise zu tragen. Außerdem kann ich meine Füße nicht sehen, weshalb ich beim Gehen achtsam sein muss. Trotzdem ziehe ich nicht in Erwägung, sie auf eine andere Art zu tragen. »Da Ihr ein Kleid tragt, scheint mir das die einzig angebrachte Art zu sein.«
Sie runzelt die Stirn. »Eure Schwester trägt auch ein Kleid.«
»Sie ist auch meine Schwester«, sage ich, denn obwohl ich Ihre Heiligkeit in Gedanken oft mit Annie vergleiche, ist mir sehr bewusst, dass ich die Heilige nicht wie meine Schwester behandeln kann. »Ich bin sicher, Ihr würdet es auch bevorzugen, wenn meine Hände so wenig von Euren Beinen berühren wie möglich.« Ich richte meinen Blick geradeaus, bemüht, mich auf den Weg vor uns zu konzentrieren und darauf, zu den anderen aufzuschließen.
Stella ist stehengeblieben, da ich mich nun wieder in Bewegung gesetzt habe. Dafür kommt Eden auf uns zu, um die Situation so unangenehm wie möglich zu machen, wie ich keinen Zweifel habe.
»Deswegen denkt Ihr, dass es besser ist, Eure Hand auf meiner Taille zu platzieren, direkt unter meiner Brust?«
Ich bleibe wie angewurzelt stehen. Meine Hand, die ihre Taille hält, kribbelt mit der plötzlichen Erkenntnis, dass sie dort nichts verloren hat. »Das … das denke ich nicht …« War das der Grund, weshalb Ihre Heiligkeit meine Art, sie zu tragen, bemängelt hat? Aber gibt es eine Möglichkeit, sie zu tragen, ohne sie dabei an einer unangebrachten Stelle zu berühren? Da sie die Heilige ist, gibt es überhaupt eine Stelle an ihrem Körper, bei der es nicht unangebracht für mich wäre, sie zu berühren?
Nein, zuallererst sollte ich sie absetzen. Aber gerade als ich dazu ansetzen will, bricht Ihre Heiligkeit in Gelächter aus.
Ich starre sie entsetzt an.
»Ihr hättet mir sagen sollen, dass Ihr es seid, der sich unwohl fühlt, my Lord«, sagt sie kichernd, als wäre es nie sie gewesen, die sich unwohl fühlt. Ihre himmelblauen Augen funkeln vergnügt und das breite Grinsen auf ihren Lippen wirkt geradezu frech. »Es liegt mir fern, Euch zu etwas zu zwingen, das Ihr nicht wollt.« Sie hebt eine Braue und es hätte ihrem Ausdruck eine gewisse Schärfe verliehen, würde ihr breites Grinsen nicht bleiben. So wirkt er eher spöttisch.
Ich schlucke, während ich versuche, ihren Blick zu erwidern. Ich weiß, dass sie sich über mich lustig macht. Auf eine sehr kindische Art. Trotzdem fühlt sich mein Gesicht heiß an und es fällt mir schwer, ihr zu antworten. »Ich habe mir wohl unnötige Sorgen um Euch gemacht.« Meine Stimme klingt genauso kindisch wie ihre in meinen Ohren. »Offensichtlich geht es Euch besser, als ich angenommen habe.«
Sie hält sich eine Hand vor den Mund, aber auch wenn sie ihr Grinsen damit verbirgt, bleibt der schelmische Blick in ihren Augen. »Oho, Ihr solltet vorsichtig sein. Wer sich zu viel sorgt, wird schneller alt«, flötet sie neckisch. Es ist nichts, das eine kultivierte junge Dame sagen sollte, also wieso klingt es so charmant?
»Mikail!« Edens laute Stimme reißt mich aus meiner geistigen Starre. Da ich stehen geblieben bin, hat er etwas länger gebraucht, um uns zu erreichen.
Aber jetzt gibt es keinen Grund mehr zu trödeln und so gehe ich ihm entgegen.
»Was soll das?! Nimm sofort deine Hände von ihr!«, faucht Eden mit wutverzerrtem Gesicht, aber mich könnte das nicht weniger kümmern.
»Beruhigt Euch, Euer Hoheit. Ich erinnere mich, dass Ihr Ihre Heiligkeit dazu überreden wolltet, sich helfen zu lassen, damit wir schneller vorankommen«, sage ich, während ich zu Stella sehe, die nach wie vor dort steht, wo sie vorhin stehen geblieben ist.
Sie sieht mich an, als wäre sie geschockt, dass die Heilige eingewilligt hat, sich von mir tragen zu lassen und ich nicke ihr knapp zu, um sie wissen zu lassen, dass alles in Ordnung ist.
»Aber nicht von dir! Du bist ein verlobter Mann!« Eden blockiert mir den Weg.
Ich bleibe stehen und atme kontrolliert aus. »Stellt Ihr meine Absichten infrage?«, frage ich und die Tatsache, dass er andeuten will, dass ich dieselben Gelüste Ihrer Heiligkeit gegenüber habe wie er, ärgert mich. Aber lange nicht so sehr wie der Gedanke an unser Gespräch gestern und wie wenig Bedeutung es für ihn zu haben scheint. Denn offensichtlich glaubt er in einer Position zu sein, in der er das Recht hat, in dieser Situation empört zu sein.
»Ich habe ihm meine Erlaubnis gegeben«, sagt Ihre Heiligkeit mit ruhiger Stimme und erinnert mich daran, dass ich meine Fassung behalten muss.
Eden richtet seinen Blick auf sie und die Vorsicht verschwindet aus seinen Zügen. »Ich verstehe, dass du unerfahren in diesen Dingen bist, Lorelai, aber das ist höchst unangebracht! Eine unverheiratete Frau sollte niemals in den Armen eines Mannes liegen, der mit einer anderen verlobt ist!«
»Eine unverheiratete Frau, Euer Hoheit? Ihr sprecht doch nicht von mir, oder?« Sie sieht Eden mit einem missbilligenden Blick an und da es das erste Mal ist, dass ich erlebe, wie sie offen ihren Unmut ihm gegenüber zeigt, schließe ich, dass es sie in besonderem Maße verärgert, dass er ihre Loyalität zu ihrem Glauben infrage stellt.
»Natürlich spreche ich von dir, von wem sonst?« Eden wedelt ungeduldig mit der Hand. »Es führt nur zu Missverständnissen, wenn du weiter so unbedacht handelst.«
»Das Missverständnis liegt bei Euch, Euer Hoheit«, erwidert sie, jetzt mit hörbar kühler Stimme. »Ich bin keine ‚unverheiratete Frau‘, ich bin die Heilige. Familienstand hat für mich keinerlei Bedeutung und ich habe keinerlei Bedeutung für den Familienstand eines Mannes, ganz gleich wer er ist.«
Auch Eden scheint ihr Tonfall diesmal nicht zu entgehen, denn seine Miene verdüstert sich. »Du bist so schrecklich naiv, Lorelai. Ich dachte, ich habe dir oft genug erklärt, dass jeder Mann eine Gefahr für dich ist, egal wie harmlos er sich gibt.« Er lässt es wie eine gut gemeinte Warnung klingen, aber ich weiß es besser.
Allein die Tatsache, dass Ihre Heiligkeit sich plötzlich an mich drückt, um von ihm wegzukommen, bestätigt mir, dass seine Worte nichts gut gemeintes an sich haben.
»Ihr solltet aus dem Weg gehen, Euer Hoheit.« Ich knirsche mit den Zähnen, während ich mich darauf konzentriere, meine brodelnde Aura unter Kontrolle zu halten. Wie kann er es wagen, sie vor Männern zu warnen, nachdem, was er getan hat?!
Ich beschwöre ein Schild zwischen uns, um sicherzugehen, dass er Ihre Heiligkeit nicht berühren kann.
Nicht, dass das genug ist. Selbst die Tatsache, dass Ihre Heiligkeit ihn in diesem Moment beschützt, ist ein Privileg, das er nicht verdient. Es ist ein glücklicher Umstand, dass ich Ihre Heiligkeit in den Armen halte, da es mich davon abhält, etwas Dummes zu tun.
Mit Mühe nehme ich den Blick von Eden und sehe zu Jake, der die Situation von hinter Eden beobachtet hat.
Er versteht meinen Wink und kommt zu uns. »Das sehe ich genauso, Euer Hoheit«, sagt er, als er neben mir stehen bleibt. »Es sei denn, Ihr interessiert Euch dafür, was die sottischen Soldaten zu dieser Situation zu sagen haben.«
Ich atme aus und gehe an Eden vorbei. Jake die Situation zu überlassen ist die beste Entscheidung, aber Eden sagt ohnehin nichts mehr.
Ich entferne meinen Schild und bemühe mich, meine Aura zu beruhigen. Ich will nicht, dass jemand infrage stellt, weshalb ich so aufgebracht wegen Eden bin. Daher schlage ich bewusst ein schnelles Tempo an und laufe bald an der Spitze, mit etwas Abstand zu Jake und Hilena, die hinter uns laufen. Auf diese Weise sollte niemand meine aufgebrachte Stimmung bemerken. Niemand außer Ihrer Heiligkeit.
»Stimmt etwas nicht, Eure Heiligkeit?«, frage ich, da sie mich nun schon eine ganze Weile anstarrt.
»Nein«, ist die unbeschwerte Antwort. Und sie sieht auch nicht so aus, als würde sie sich unwohl fühlen.
Ich richte meinen Blick geradeaus. War ihre Angst vor Eden nicht so groß, wie ich dachte? Und was ist mit mir? Gestern hat sie so heftig auf meine Nähe reagiert und auch vorhin, als ich sie hochgehoben habe, konnte ich deutlich den Schock auf ihrem Gesicht sehen. Aber jetzt scheint sie gelassen.
Der Gedanke ist beruhigend, aber sie starrt mich so unverhohlen an, dass ich mich kaum auf etwas anderes konzentrieren kann. Und da sie meine Frage danach so einfach abgeschmettert hat, hat sie wohl nicht vor, mir zu sagen, was ihr durch den Kopf geht.
Ich räuspere mich. »Eure Heiligkeit«, sage ich, als ich es nicht mehr aushalte. »Ihr habt bald Geburtstag.«
Sie macht ein verwirrtes Gesicht.
Wahrscheinlich, weil meine Bemerkung völlig willkürlich ist und sie selbstverständlich weiß, dass sie bald Geburtstag hat. Ich war noch nie gut in leichter Konversation.
»Ähm.« Ich rolle mit den Augen, während ich versuche, ein Gespräch in Gang zu setzen. Der Umstand, dass ich alleine mit ihr vor den anderen hergehe, wird mir nun zum Verhängnis. »Ich habe nur gerade gedacht, dass es wärmer wird und Euer Geburtstag ist das größte Ereignis im Sommer. Deshalb ist er mir in den Sinn gekommen.«
»Ja …«, antwortet sie genauso knapp wie zuvor. Aber es gibt wohl nicht mehr dazu zu sagen.
»Ich habe Euch immer dafür bewundert, dass Ihr Euren Geburtstag damit verbringt, Krankenhäuser und Einrichtungen für Unheilbare zu besuchen«, fahre ich fort, denn ihr Geburtstag ist tatsächlich ein großes Ereignis, und so gibt es zu meiner Erleichterung einiges dazu zu sagen.
Mein Kompliment scheint Ihrer Heiligkeit jedoch nicht sonderlich zu schmeicheln. »Ich nehme an, Ihr feiert meinen Geburtstag auf dem königlichen Ball?«, sagt sie und ich frage mich, ob sie andeuten will, dass ich an ihrem Geburtstag feiere, während sie arbeitet.
»Der königliche Ball ist nicht das, was Euren Geburtstag besonders macht, Eure Heiligkeit.«
Ich sehe zu Jake, der zu uns aufholt, dankbar, denn im Gegensatz zu mir, ist er gut darin, sich zu unterhalten.
»Sprecht nicht von hinter mir, Alistair«, sagt Ihre Heiligkeit recht ungehalten und ich sehe sie überrascht an. Ich wusste von ihrer Abneigung gegen Jake, aber ich dachte, ich wäre der Einzige demgegenüber sie sie so offen zeigt. Auch wenn es nicht das erste Mal ist, dass sie Jake ‚Alistair‘ nennt, als wolle sie darauf hinweisen, dass sich ihre Abneigung gegen seinen Familiennamen richtet. Mich nennt sie nur ‚my Lord‘.
Jake grummelt und umrundet mich, sodass er auf meiner rechten Seite steht.
»Er hat recht«, sage ich, um das Gespräch nicht verlaufen zu lassen. »Euer Geburtstag wird von der ganzen Stadt gefeiert, nicht nur vom König. Die Menschen schmücken die Straßen und es gibt Straßenfeste und Nachtmärkte. Es ist eine schöne Zeit.«
»Es gibt Nachtmärkte?«, fragt sie, als würde sie das überraschen.
»Ja. Ich habe selbst noch nie einen besucht, aber soweit ich weiß, sind sie sehr beliebt. Ist es nicht so, Jake?« Da ich nicht viel darüber weiß, gebe ich die Frage an Jake weiter.
»Jap! Nachtmärkte sind tausendmal lustiger als jeder stinklangweilige königliche Ball«, sagt Jake ausgelassen und streckt sich.
Soweit ich weiß, schleicht er sich oft davon, um an solchen und ähnlichen bürgerlichen Festen teilzunehmen. Er hatte schon immer einen neugierigen und ungezwungenen Charakter.
Aber die Heilige scheint mit seiner Antwort nicht sehr zufrieden. Sie schürzt die Lippen und sieht mich an. »Was genau ist ein Nachtmarkt?«
Ich sehe sie verdutzt an. Mir ist entgangen, dass sich ihre Frage zuvor darauf bezogen hat, dass sie nicht weiß, was ein Nachtmarkt ist. »Oh, ähm …«, stammele ich und schiebe die Frage beiseite, wie es sein kann, dass die Heilige ein Fest, das an ihrem eigenen Geburtstag stattfindet, nicht kennt. »Nachtmärkte sind vergleichbar mit Straßenfesten, würde ich sagen, aber sie finden abends statt und bieten andere Dinge an.« Ich sehe Hilfe suchend zu Jake.
»Es gibt Stände, wie bei einem normalen Markt, aber sie verkaufen allen möglichen Krimskrams. Zeug, das nützlich ist, aber nicht unbedingt notwendig«, erklärt Jake ohne Umschweife. »Zum Beispiel Knöpfe, mit denen man die Farbe der Kleidung wechseln kann, an der man sie festgenäht hat. Oder Kerzen, die einen Duft abgeben, wenn man sie anzündet. Viele Handwerker nutzen die Gelegenheit auch, um neue Produkte vorzustellen, aber in erster Linie geht es darum, Spaß zu haben. Es gibt Stände, die Essen und Getränke verkaufen und an einigen kann man Spiele spielen und Preise gewinnen. Manche haben sogar ein Lagerfeuer und Gaukler, die Musik spielen. Wie gesagt, es geht um Spaß.«
Während Jake spricht, beobachte ich das Gesicht der Heiligen. Es scheint, dass sie versucht, unbeeindruckt auszusehen, aber ihre Augen funkeln mit Neugier und sie bewegt sogar ihre Beine, als wäre sie aufgeregt.
Als er seine Erklärung beendet, presst sie die Lippen aufeinander, offensichtlich enttäuscht. Einen Moment mustert sie Jake, dann räuspert sie sich. »Was sind das für Spiele, von denen Ihr gesprochen habt? Und was für Preise kann man gewinnen?« Ihre Stimme klingt beiläufig, als ginge es ihr lediglich darum, höflich zu sein, aber sie starrt Jake so intensiv an, als hätte sie mich völlig vergessen.
Ich beiße mir auf die Lippe, um nicht zu lachen. Sie sieht aus wie ein kleines Mädchen, dem ein neues Spielzeug in Aussicht gestellt wird.
»Das ist ganz unterschiedlich. Meistens gibt es das Glücksrad. Das ist eine große, runde Holzplatte, die sich drehen lässt und auf der verschiedene Bereiche aufgemalt sind. Am Rand ist eine Nadel befestigt, die auf einen dieser Bereiche zeigt, wenn das Rad steht. Ihr bezahlt fünf Kupferstücke oder eine ähnliche Menge, um an dem Rad drehen zu dürfen und je nachdem auf welchen Bereich die Nadel am Ende zeigt, bekommt ihr einen Preis.«
Ihre Heiligkeit nickt, als würde sie sich vorstellen können, wie das Spiel funktioniert. Dann reibt sie sich das Kinn und kichert verschlagen, sodass ich mich frage, was ihr durch den Kopf geht.
Auch Jake scheint zu merken, dass sie Gefallen an seinen Beschreibungen findet, denn er fährt fort. »Am besten hat mir ein Stand gefallen, bei dem man verschiedene verzauberte Gegenstände begutachten konnte und wenn man erraten hat, was sie tun, durfte man sie behalten.«
Diesmal schnaubt sie mit einem selbstgefälligen Ausdruck. Welchen Gedanken auch immer sie gerade hat, er scheint sie mit stolz zu erfüllen.
»Was noch?«, fragt sie ungeduldig, als Jake abgelenkt von ihr, nicht weiterspricht.
Er runzelt die Stirn und beginnt weiter zu erzählen, während ich Ihre Heiligkeit beobachte. Sie kann kaum stillhalten, während sie Jake lauscht, und ihre Augen sprühen voller Tatendrang, als wolle sie alles, von dem er erzählt, persönlich erleben. Ein lebhaftes Rosa bedeckt ihre Wangen und sie öffnet und schließt den Mund, nur um sich auf die Lippe zu beißen und im nächsten Moment wieder breit zu grinsen.
Und auch wenn ich völlig aus dem Gespräch ausgeschlossen werde, kann ich nicht behaupten, mich zu langweilen, während ich die sich ständig ändernden Gesichtsausdrücke Ihrer Heiligkeit beobachte und mich frage, wie ich sie jemals für unmenschlich und puppenhaft halten konnte.
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