Tod der Heiligen
XVII.
Mikails Blick ist fest auf mich gerichtet und ich kann sehen, dass er aufmerksam meine Reaktion studiert.
Ich atme aus. »Es ist Euch also aufgefallen«, sage ich mit einem milden Lächeln. Ich dachte, ich hätte einen guten Job gemacht, meine Abneigung zu verbergen, aber es ist eine Erleichterung zu wissen, dass ich mir keine große Mühe mehr geben muss.
Überraschung blitzt in Mikails Augen auf, ehe sich seine Miene verdüstert. »Ich war mir nicht sicher. Aber ich bin gut darin zu erkennen, wie ehrlich jemandes Absichten sind.«
»Wollt Ihr sagen, meine Absichten sind nicht ehrlich?«, frage ich, denn ich versuche sehr ehrlich, ihn und die anderen am Leben zu halten.
»Ich denke, Eure Absichten nach Hause zu kommen sind ehrlich.«
Falsch.
»Nicht aber Eure Freundlichkeit uns gegenüber. Zumindest was Jake, Prinz Eden und mich angeht.«
Denkt er, dass ich nett zu den Frauen bin? Zu seiner Schwester vielleicht, aber nur weil sie mich an Luci erinnert und mir leidtut. Ich habe Hilena den Läuterungszauber beigebracht, aber nur damit sie die anderen für mich läutert und Estella scheint aus irgendeinem Grund eine Abneigung gegen mich zu entwickeln, sodass ich nicht einmal die Möglichkeit habe, nett zu ihr zu sein.
Ich runzle die Stirn. Ich habe das Gefühl, ich habe jemanden vergessen.
»Trotzdem seid Ihr hergekommen, um mich vor den Soldaten zu retten.« Ein schwaches Lächeln umspielt seine Lippen. »Ich kenne Eure Gründe für Eure Abneigung mir gegenüber nicht, aber da Ihr bereit seid darüber hinwegzusehen, schulde ich Euch meinen Dank.«
Ich starre ihn an und seine grünen Augen erwidern meinen Blick vertrauensvoll. Es ist eine Situation, die keinen Sinn ergibt. Er weiß, dass die Heilige, die allgemein als die Personifikation von Güte gilt, ihn nicht leiden kann, aber anstatt mich nach dem Grund zu fragen, bedankt er sich dafür, dass ich darüber hinwegsehe? Ich würde ja sagen, er hat einfach so große Angst vor mir, aber dieser Blick in seinen Augen wirkt kein bisschen ängstlich. Als ob er aufrichtig dankbar wäre.
Nein, das ist es nicht. Ich lache leise, als mir klar wird, dass er einfach nicht erwartet, dass die Abneigung der Heiligen in irgendeiner Weise bedrohlich für ihn ist. »Ist Euch nicht in den Sinn gekommen, dass mein Aufenthaltsort genauso entdeckt worden wäre wie Eurer, wenn man Euch erwischt hätte?« Ich setze mich in den Schneidersitz und stütze meinen Ellbogen auf meinem Oberschenkel auf. Normalerweise würde ich als Lorelai nicht so sitzen, aber unter den Umständen wird es ihn wohl kaum stören, wenn ich mich nicht damenhaft gebe, und so ist es bequemer.
»Eure Absichten ändern nichts daran, dass Ihr mich vor einer unangenehmen Situation bewahrt habt«, erwidert Mikail gelassen, als hätte ich nichts von Bedeutung gesagt.
»Meine Absichten ändern nichts?«, wiederhole ich und ich weiß nicht einmal, ob ich darüber lachen soll. Ich frage mich, was für ein Gesicht er machen würde, wenn ich ihm verraten würde, dass ich mit dem Gedanken gespielt habe, ihn und seine Freunde sterben zu lassen. Vielleicht versteht er dann, welche Rolle ‚Absichten’ spielen.
Ich richte meinen Blick fest auf ihn. Seine blonden Haare, seine grünen Augen, die feingeschnittenen Gesichtszüge und sein Charakter, der entweder naiv oder hoffnungslos idealistisch ist. Würde ich es nicht wissen, wäre ich nie darauf gekommen, dass er ein Moraen ist. »Ihr seht Eurem Vater nicht sehr ähnlich.«
Mikail blinzelt, offenbar überrascht über meinen plötzlichen Themenwechsel. »Kennt Ihr meinen Vater?«
»Wir wurden uns nie offiziell vorgestellt, aber ich weiß, wie er aussieht«, erwidere ich. Wie könnte ich Kaiden Moraen nicht erkennen, wenn er seinem Bruder so ähnlich sieht?
Mikail nickt und fährt sich mit der Hand durch sein blondes Haar. »Man hat mir immer gesagt, ich komme nach meiner Mutter.« Er wirft den blonden Strähnen zwischen seinen Fingern einen Blick zu, ehe er wieder zu mir sieht. »Wieso ist das wichtig?«
»Ihr seid der Erbe Eures Vaters, richtig? In adligen Familien erbt in der Regel der älteste Sohn.«
»Ja, das ist richtig, aber ich verstehe nicht, worauf Ihr hinauswollt.«
»Vorausgesetzt er ist Aura-Träger natürlich.« Ich mustere ihn eindringlich, um zu sehen, ob ich noch deutlicher werden muss.
Mikail senkt seine Hand. »Ihr sprecht von meinem Onkel. Ich wusste nicht, dass Ihr euch kennt.«
»Tun wir nicht!«, sage ich etwas übereilt. Ich lege die Stirn in Falten und bemühe mich um einen ruhigen Tonfall. »Er hat den Tempel besucht, um sich über sein Unglück zu beschweren, deshalb weiß ich davon.«
Carson Moraen ist der ältere Bruder des jetzigen Marquis, aber da er mit Mana geboren wurde, hat man seinen jüngeren Bruder zum Erben des Marquisats ernannt.
Mikail nickt. »Ich verstehe. Von außen betrachtet mag es ungerecht erscheinen, aber mein Vater wurde nicht zum Erben ernannt, weil er Aura-Träger ist.« Er hält inne, um sich mit der Hand über den Mund zu fahren. »Jedenfalls nicht in erster Linie. Im Grunde hat die Tatsache, dass mein Onkel der Ältere und mein Vater Aura-Träger war, beiden die gleichen Chancen gegeben.«
Aura wird auch als männliche Kraft bezeichnet, weshalb Männer, die mit Mana geboren werden, von einigen als ‚halbe Männer‘ oder einfach als unfähig bezeichnet werden. Dieselben Leute würden eine Frau mit Aura ‚Mannweib‘ oder ähnliches nennen. Dabei sollte allein die Tatsache, dass die Kommandantin der königlichen Garde eine Frau ist und der oberste Palastmagier ein Mann, beweisen, dass das Geschlecht beim Meistern einer Energie keine Rolle spielt und ich habe nie verstanden, weshalb sich einige Menschen so sehr darauf versteifen.
»Ich weiß nicht, wie gut Ihr meinen Onkel kennt, aber er ist kein geeignetes Oberhaupt oder auch nur ein guter Mensch. Es mag daran liegen, dass er und mein Vater nicht die besten Freunde sind und meine Meinung von ihm dadurch beeinträchtigt wurde. Aber er ist ein Mann, der keine Verantwortung übernehmen kann und Schuld auf diejenigen abwälzt, die in keiner Position sind, sich gegen ihn zu wehren, anstatt an seinen Schwächen zu arbeiten. Zum Beispiel hat er nie versucht, sein Mana -«
»Es ist nicht nötig, weiter ins Detail zu gehen!«, unterbreche ich ihn und lege dabei so viel Kraft in meine Stimme wie ich kann. ‚Diejenigen, die in keiner Position sind, sich gegen ihn zu wehren‘ oder um es anders auszudrücken ‚Schwächlinge’. Als ob eine andere Formulierung etwas daran ändern würde. »Ich interessiere mich nicht für Eure Familiengeschichte!« Ich buffe meine Beine und stehe auf. Mit den Händen umklammere ich meinen Rock, um ihn beim Gehen hochzuhalten und das Zittern zu verbergen. Aber ohne, dass ich es verhindern kann, steigt die Erinnerung an diese schmalen, gelb-braunen Augen in mir auf, die auf mich herabschauen, gekrümmt von einem Lächeln voll hämischer Genugtuung. Aber ich bin nicht mehr schwach! Die Zeiten, in denen er auf mir herumtrampeln konnte, sind vorbei!
Ich versuche, ein schnelles Tempo anzuschlagen, aber meine Beine fühlen sich trotz des Buffs steif an und da ich nicht stolpern und auf die Nase fliegen will, schaffe ich es nicht, Mikail abzuhängen. Nicht einmal ansatzweise, um genau zu sein, denn obwohl er mir nicht sofort folgt, höre ich, wie er zu mir aufschließt und gemächlich hinter mir herläuft. Es gefällt mir nicht, dass er hinter mir läuft und ich ihn nicht sehen kann, aber ich will auch nicht auf ihn warten oder etwas zu ihm sagen, auf die Gefahr hin, von ihm erneut in ein Gespräch verwickelt zu werden. Und zu allem Übel kommt hinzu, dass der Weg zurück länger ist, als ich gedacht habe, was wohl daran liegt, dass ich den größten Teil der Strecke teleportiert bin.
Ich kann praktisch spüren, wie sich sein Blick in meinen Hinterkopf bohrt und er fragt sich wahrscheinlich, weshalb ich nach seinem Onkel gefragt habe, nur um ihn dann abzuwürgen. Er denkt bestimmt, dass ich unhöflich bin. Was die Wahrheit ist, aber wieso beschwert er sich nicht? Adlige legen doch so viel Wert auf Etikette und Mikail wirkt wie ein besonders regeltreuer Adliger.
Aber ich bin mir sicher, dass er nichts weiß. Er würde sich anders benehmen, wenn er es wüsste. Und daran, dass ich seinen Onkel kenne, ist nichts ungewöhnlich. Oberhaupt oder nicht, der Name Moraen allein ist mächtig genug, um es nicht ungewöhnlich zu machen. Aber was, wenn er seinen Onkel darauf anspricht?
Ich packe mein Kleid fester.
Nein, es macht keinen Unterschied. Ich werde offiziell tot sein, bevor er die Gelegenheit bekommt, mit Carson zu sprechen. Und danach ist alles egal.
Als wir am Lagerplatz ankommen ist es dunkel, nicht zuletzt, da Estella auf mich gehört hat und ihr Feuer gelöscht hat. Daher beschwöre ich eine Lichtkugel, damit sie sehen können, dass wir keine Soldaten sind. Und da erst holt Mikail zu mir auf. »Wir sind es!«, sagt er, kaum dass ich das Licht beschworen habe. »Seid Ihr alle in Ordnung?«
»Mikail!« Estella ist sofort auf den Beinen und kommt auf uns zu, um sich Mikail in die Arme zu werfen. »Was ist passiert? Wo wart ihr so lange? Ich habe mir solche Sorgen gemacht.« Sie lässt ihn los, nur um sein Gesicht mit beiden Händen zu umfassen und ihn in Augenschein zu nehmen. »Du bist nicht verletzt, oder? Ihre Heiligkeit hat gesagt, es wären Soldaten in der Nähe und ich dachte, -«
»Es ist alles gut, Stella«, sagt Mikail mit einem Lächeln, während er ihre Hände von seinem Gesicht zieht. Dann huscht sein Blick zu mir. »Es sind tatsächlich Soldaten hier, aber dank Ihrer Heiligkeit haben sie uns nicht entdeckt.«
Auch Estella sieht nun zu mir, aber ich sehe weiter Mikail an. Es wirkt nicht direkt, als wäre ihm die Situation unangenehm, aber er schiebt Estella von sich. Und während ich spüren kann, wie nervös und aufgeregt Estella ist, strahlt Mikails Körper Ruhe aus. Ich bin mittlerweile so gut darin, den momentanen Zustand eines Körpers zu lesen, dass ich es kaum noch bewusst tue, aber ich glaube nicht, dass Mikail jemals auffallend unruhig gewesen ist, außer während des Angriffs der Gargoyle und vorhin, als wir uns vor den Soldaten versteckt haben. Sogar meine Gegenwart scheint ihn nur selten aus der Ruhe zu bringen und er benimmt sich mir gegenüber nicht bedeutend anders, als gegenüber den anderen Frauen unserer Gruppe.
»Lorelai!«
Edens Stimme lässt mich unwillkürlich das Gesicht verziehen, ehe ich mich daran erinnere, dass ich keinen Schleier trage. Aber während ich noch dabei bin, meine Miene unter Kontrolle zu bringen, blockiert ein Rücken meine Sicht auf Eden.
»Euer Hoheit«, sagt Mikail mit so frostiger Stimme, dass ich sie fast nicht wiedererkannt hätte. Und in diesem Moment spüre ich Unruhe von Mikail. Vielleicht liegt es daran, dass ich mich gerade darauf konzentriert habe, aber ich spüre sie so deutlich, als würde Mikail einen tief sitzenden Groll gegen Eden hegen. Er spannt sogar seine Muskeln an, wie man es normalerweise nur tut, bevor man jemanden angreift.
»Es gibt etwas, das ich mit Euch besprechen muss«, fährt Mikail fort und ich sehe, wie er seine Finger streckt, als würde er sich bemühen, nicht die Fäuste zu ballen.
»Jetzt sofort?«, fragt Eden mit uncharakteristisch schwacher Stimme, als wäre auch ihm nicht entgangen, dass ein falsches Wort von ihm, mit einer Faust in seinem Gesicht enden könnte.
»Ja, jetzt sofort«, sagt Mikail und macht einen Schritt vor. »Wieso gehen wir nicht zum Fluss? Wir können uns bei der Gelegenheit nützlich machen, da wir noch nichts zu Abend gegessen haben.«
Bei seinem weichen, aber bedrohlichen Tonfall bekomme sogar ich eine Gänsehaut. Ich dachte, er wäre ein naiver Gutmensch, der Beleidigungen mit einem Lächeln hinnimmt, um Konflikte zu meiden. Mir war nicht klar, dass man jemanden bedrohen und gleichzeitig hilfsbereit sein kann.
»Aber es ist dunkel und -«
»Geht voran.« Mikail unterbricht Eden, als hätte er ihn nicht gehört und ich frage mich, was für ein Gesicht er macht. Er klingt wütend, aber ich kann mir gar nicht vorstellen, wie sein Gesicht, das nur zu freundlichen Ausdrücken fähig zu sein scheint, aussieht, wenn er wütend ist. Leider sieht er nicht in meine Richtung, sodass ich es nicht überprüfen kann.
Ich sehe zu Estella, die noch immer dort steht, wo Mikail sie von sich geschoben hat, und ihm hinterhersieht, während er mit Eden im Wald verschwindet. Ihr Kiefer ist angespannt, als würde sie die Zähne fest zusammenbeißen und die Enttäuschung auf ihrem Gesicht ist nicht zu übersehen.
Ich kenne mich in diesen Dingen nicht sonderlich gut aus, aber so gut wie jeder Mann, der mein Gesicht sieht, bekommt diesen Blick in den Augen, als würden ihm ein paar Gehirnzellen wegsterben. Aber es gibt eine Ausnahme. Männer, die mich zwar mit Bewunderung, nicht aber mit Begierde ansehen. Aus dem einfachen Grund, dass sie Frauen im Allgemeinen nicht begehren.
Ich sehe zum Wald, wo Mikail verschwunden ist. Ein Mann mit einer enttäuschten Verlobten, dem die Nähe zu einer wunderschönen Frau wie mir unangenehm ist?
Ich schnaube leise, während sich ein schwaches Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitet. Vielleicht kann ich wirklich darüber hinwegsehen, dass er ein Moraen ist.
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