Tod der Heiligen

I.

»Das ist doch eine gute Sache, Lori.« Die Stimme meiner Mutter klingt enthusiastisch und ich sehe unglücklich auf meine Teetasse hinab. Ich hätte ihr nichts von der Einladung erzählen sollen.

An diesem Morgen habe ich einen Brief von Prinzessin Estella erhalten, in dem sie mich bittet, an einer Veranstaltung teilzunehmen und ein Zeichen zu setzen. Es geht darum, sich gegen die alte Tradition zu stellen, dass Frauen ihre Energie nicht ausbilden. Mich als Heilige schließt das aber ohnehin nicht ein und es könnte mich nicht weniger kümmern, was adlige Frauen mit ihrer Energie machen.

Mama stellt ihre Tasse auf dem Tisch ab und lehnt sich etwas zu mir herüber. »Ich weiß, dass du dich aus der Politik fernhalten willst, aber du hast dich so dafür eingesetzt, dass wir einen Lehrer für Luci beschäftigen. Ist das nicht etwas, dass dir auch am Herzen liegt?«

Natürlich liegt es mir am Herzen, dass meine kleine Schwester ihr Potenzial als Wassermagierin nicht aus dummen Gründen verschwendet. Aber selbst wenn ich selbstlos genug wäre, um völlig fremde Frauen, dazu zu ermutigen, dasselbe zu tun, wäre die Situation nicht so einfach.

»Dräng sie nicht so, Eliza.« Mein Vater legt meiner Mutter eine Hand auf den Arm. »Lori hat bestimmt ihre Gründe, diese Einladung mit Vorsicht zu behandeln.«

Mama richtet ihren Blick auf ihn. Sie zögert und sieht dann wieder zu mir. »Ich dachte nur, das wäre vielleicht eine Möglichkeit für dich, ein paar Freundinnen zu finden.«

»Eh?« Ein überraschter Laut kommt mir über die Lippen, als Mama etwas sagt, dass ich überhaupt nicht erwartet habe.

Mama macht ein betrübtes Gesicht. »Ich mache mir Sorgen, Lori. Du verlässt den Tempel nur für deine öffentlichen Pflichten und deine Krankheit schränkt dich so sehr ein. Wenn du wenigstens ein paar Freunde in deinem Alter hättest, wärst du vielleicht nicht mehr so einsam.«

»Ich bin nicht einsam«, sage ich sofort, aber der Gesichtsausdruck meiner Mutter sagt mir, dass sie das überhört.

Ich seufze. Für meine Mutter wirkt mein Leben wohl sehr trübselig, schließlich zeige ich ihr nur diesen Teil. Aber so wie die Dinge liegen, kann ich ihr nicht einmal verraten, dass ich nicht wirklich krank bin und ich mich absichtlich so gut es geht von der Außenwelt abschirme.

Meine Position als Heilige macht mich zu einer einflussreichen Figur und das, obwohl ich mich bemühe, meinen Einfluss zu schwächen. Denn Einfluss bedeutet Macht und Macht bedeutet, dass dir andere an den Kragen wollen. Und da ich nicht aus einer Adelsfamilie stamme und meine Eltern nur meinetwegen einen Titel haben, muss ich den Kopf unten halten.

Mama greift über den Tisch nach meiner Hand. »Denk darüber nach, Lori. Du hast so viele Bewunderer und du könntest zu einem Vorbild für junge Frauen werden.«

Ich lächle meine Mutter an, um nicht zu verraten, wie wenig mich auch das reizt.

»Ich werde Luci fragen, was sie davon hält.«

Ich versteife mich. Meine kleine Schwester weigert sich, mir auch nur Briefe zu schreiben, und meine Mutter versucht ihr Bestes, um eine Brücke zwischen uns zu sein. Aber wenn ich ein Vorbild werde, würde sich ihre Einstellung zu mir vielleicht ändern.

»Aber wenn es dir zu viel ist, sag Ihrer Hoheit höflich, dass du nicht in der Verfassung bist, an der Veranstaltung teilzunehmen«, sagt mein Vater und auch er mustert mich besorgt. Er war schon immer vorsichtiger als Mama, aber auch sie nickt. »Natürlich, es ist deine Entscheidung. Nur wenn du Lust hast.«

Ich schließe mit einem Seufzen die Augen. Wenn ich zu einem Vorbild werde? Es ist ein so lächerlicher Gedanke, dass ich über mich selbst lachen könnte, dafür, ihn gehabt zu haben. Selbst wenn mir das gelingen sollte, würde es Luci wohl kaum dazu bringen, mit mir zu sprechen. Auch wenn meine Mutter recht hat. Es wäre eine gute Sache, wenn Luci ihre Magie ausbilden könnte, ohne dabei das Missfallen der Gesellschaft auf sich zu ziehen.



 

An diesem Abend sitze ich mit dem Brief der Prinzessin in meinem Arbeitszimmer und grüble. Da der Brief keine explizite Aufforderung enthält, könnte ich ihn einfach ignorieren und normalerweise würde ich das. Aber wann immer ich den Brief aus der Hand legen will, denke ich an das erwartungsvolle Gesicht meiner Mutter.

Es geht nicht nur darum, dass ich ihre Erwartungen nicht enttäuschen will, sondern darum, dass sich nichts ändert. Seit fünf Jahren schleiche ich mich aus dem Tempel, um als Söldnerin Geld zu verdienen und ein Leben für meine Familie und mich vorzubereiten, für den Moment, wenn ich den Tempel endlich verlassen kann. Aber wenn überhaupt hat sich meine Position als Heilige nur gefestigt.

Meine Mutter weiß, weshalb ich so vorsichtig bin, wenn es um Adlige geht, aber sie will nicht, dass ich weiter so lebe wie bisher. Im Tempel eingesperrt und nur dazu da, meine Macht für andere einzusetzen. Wie ein Gebrauchsgegenstand, den der König und der Hohepriester abwechselnd hervorholen, um zu protzen, bevor sie mich wieder wegschließen.

Natürlich könnte ich ganz einfach weglaufen, aber sie würden nie aufhören nach mir zu suchen, daher brauche ich etwas Endgültigeres. Aber selbst dem Plan meinen Tod vorzutäuschen steht jemand im Weg.

Als hätte er diesen Gedanken gehört und sich angesprochen gefühlt, klopft es an meiner Tür und Lukes Stimme ertönt. »Das Abendessen ist serviert, Eure Heiligkeit.«

»Komm herein«, sage ich und meine Leibwache betritt das Arbeitszimmer. Er verbeugt sich knapp vor mir, bevor er den Kopf hebt und mich erwartungsvoll ansieht. Es ist, als wäre der Grund, aus dem er hergekommen ist, mit meiner Aufforderung hereinzukommen völlig unwichtig geworden und Luke würde einen Befehl des Hohepriesters ignorieren, sollte ich es so wollen.

Aber so tiefgehend seine Loyalität ist, so sehr fesselt sie mich, denn sie gilt der Heiligen und nicht mir. In der Vergangenheit gab es zu viele Momente, in denen ich das vergessen habe. Luke nimmt seine Pflichten sehr ernst und seine Unterstützung hat mir einige Freiheiten gewährt. Eine davon ist, dass ich meine Eltern jederzeit in meine Residenz einladen kann, auch wenn ich sie nicht selbst besuchen darf. Aber ich kann das Risiko nicht eingehen, meine Familie in Gefahr zu bringen, weil ich der falschen Person vertraut habe. Nicht schon wieder.

Der Brief in meiner Hand knistert, als ich die Fäuste balle. Wenn ich den Tempel je verlasse, werde ich Luke zurücklassen müssen. Aber das ist in Ordnung. Ich brauche ihn nicht mehr.

Luke rührt sich nicht, während ich ihn anstarre, ohne etwas zu sagen. Wie ein Hund, der auf einen Befehl wartet. Ich will nicht wissen, was der Tempel mit den Kindern im Waisenhaus macht, dass sie so enden.

Ich räuspere mich. »Was hältst du von der Einladung Ihrer Hoheit?«

»Sie könnte Eure Heiligkeit in Gefahr bringen«, sagt Luke sofort und ich verziehe unzufrieden das Gesicht. »Abgesehen davon.«

Luke überlegt. »Sie ist anmaßend.«

Ich schürze die Lippen. Es gibt niemand anderen, der es wagen würde, die königliche Familie in einem so gleichgültigen Tonfall herabzuwürdigen. »Findest du?«

»Jemand, der so schwach ist, ist nicht in der Lage zu begreifen, wen sie mit Euch einlädt.«

Ich schnaube leise. Das war auch mein erster Gedanke. Prinzessin Estella ist eine Feuermagierin, auch wenn ‚Magierin‘ bei weitem zu viel gesagt ist. Sie ist ein besseres Zündholz nach meinem Maßstab und wohl auch nach Lukes. Er weiß, dass ich nicht wirklich krank bin und es würde ihn vermutlich auch nicht überraschen zu erfahren, dass ich heimlich als Söldnerin arbeite. Wegen meinem Fluch kann er das nicht verraten, aber wissen tut er es trotzdem.

Ich lege den Brief aus der Hand und lehne mich in meinem Stuhl zurück. »Wie ein Kind, dass mit Knallfröschen spielt und einen Bombenleger einlädt mitzumachen«, murmle ich und mein Blick rollt zur Decke. Ich sehe es genau wie Luke. Es geht nicht nur darum, dass Estella eine völlig andere Vorstellung davon hat, was es bedeutet ihre Magie einzusetzen. Immerhin gibt es einen guten Grund, weshalb ich als Heilige die meiste Zeit in meiner Residenz im Tempel verbringe und nur für meine Pflichten an die Öffentlichkeit gehe. Auch wenn ich zugeben muss, dass der letzte Anschlag auf mich schon eine ganze Weile zurückliegt.

Mein Blick kehrt zu Luke zurück. Es ist wohl nicht weiter überraschend. Ich allein bin schon schwer genug zu töten, da ich mittlerweile selbst die ranghöchsten Beschützer des Königs an Energie übertreffe und Selbstheilungskräfte besitze, die sogar fatale Wunden regenerieren können. Nimmt man Luke dazu, macht mich das praktisch unantastbar.

Ich muss also nicht so weitermachen wie bisher, aber wenn ich Prinzessin Estellas Veranstaltung als erste besuche und diesen Wandel zeige, wird sie garantiert in einem Chaos enden. »Wenn sie meine Unterstützung will, hätte sie mich bitten sollen wegzubleiben.« Ich lache leise über die Ironie, denke aber, dass es nicht schaden kann, einen Blick zu riskieren.



 

Nach dem Abendessen gehe ich nicht in meine Gemächer, sondern in die kleine Kapelle, die Teil meiner Residenz ist. Dort knie ich mich auf dem Gebetsstuhl nieder, verschränke die Finger und schließe die Augen. Aber auch wenn es so aussieht, bin ich nicht hier um zu beten. Ich bin hier, weil ich mich konzentrieren muss und der Gebetsstuhl am bequemsten dafür ist. Außerdem schadet es nicht, den Schein zu waren.

Als Heilige erwartet man von mir, die Gabe zu besitzen, Dinge vorauszusagen, aber da die letzte Heilige lange vor meiner Geburt gestorben ist, hat mir niemand gesagt, wie das funktionieren soll. Und so habe ich einfältig gebetet und gebetet, in der Hoffnung, dass sich mir irgendwann eine Prophezeiung offenbart. Leider klappt es nicht so einfach.

In dieser Welt gibt es keinen Gott, aber es gibt eine allgegenwärtige, lebensspendende Macht, den Weltstrom. Jedes Lebewesen hat eine Verbindung zum Weltstrom, denn es ist der Ort, von dem jeder seine Energie bezieht. Und wenn man es schafft, über diese Verbindung Zugang zum Weltstrom zu finden, hat man Zugriff auf sämtliche Informationen, die der Weltstrom enthält. Die Reichweite hängt von der eigenen Energie ab, aber im Grunde braucht es nur Übung.

Im Gegenzug für höllische Kopfschmerzen kann man dann die Wahrheit in der Gegenwart sehen und wenn man dem Fluss des Weltstroms folgt, kann man auch erahnen, wo sie hinführt. Zum Beispiel kann ich sehen, dass Prinzessin Estellas Vorhaben bereits den Unmut mehrerer konservativer Adliger auf sich gezogen hat und dass ihre Veranstaltung wohl auch ohne mich chaotisch werden wird. Aber ihre Gästeliste ist weit interessanter für mich.

Mit einem Schnauben ende ich die Verbindung zum Weltstrom. Mein Kopf pocht, aber die aufsteigende Wut in mir, macht es leicht, den Schwindel zu ignorieren. »Sie lädt mich zu einer Veranstaltung mit diesen Leuten ein?« Ich lache über die Dreistigkeit der Prinzessin. Es ist, als wollte sie das pure Chaos.

Ich lehne den Kopf zurück und schließe die Augen. Wahrscheinlich hat sie keine Ahnung, dass sie Hunde und Katzen zu ihrer Veranstaltung bittet, aber Ignoranz ist keine Entschuldigung. Ich wäre verärgert, aber mit einem Mal bietet sich mir eine reizvolle Gelegenheit.

Wenn ich Estellas Event besuche, werden diejenigen, denen ich ein Dorn im Auge bin, es als eine Bedrohung empfinden, da es wirkt, als wolle ich meinen Einfluss ausweiten. Aber so wie die Dinge liegen, wird man eher versuchen, mich zu diskreditieren als mich zu töten, da es einfacher ist.

»Aber das kann ich nicht zulassen«, murmle ich und ein Grinsen verzieht meine Lippen. Nicht wenn mir die perfekte Möglichkeit geboten wird zu sterben, ohne in Gefahr zu sein.

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